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Gemeinschaftsdiagnose: Aufschwung setzt sich fort – Europäische Schuldenkrise noch ungelöst

Im Frühjahr 2011 befindet sich die Weltwirtschaft im Aufschwung, vor allem aufgrund der Dynamik in den Schwellenländern. Auch Deutschland erlebt einen kräftigen Aufschwung. Die Institute erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 2,8 % und im kommenden um 2,0 % zunimmt. Für die Jahre 2011 und 2012 wird eine Arbeitslosenquote von 6,9 % bzw. 6,5 % erwartet. Die Auftriebskräfte werden sich allmählich zur Binnennachfrage verschieben. Die Löhne ...

Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2011

Der Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose gehören an:

ifo Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München
in Kooperation mit:
KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich

Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel
bei der Mittelfristprognose in Kooperation mit:
Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Mannheim

Institut für Wirtschaftsforschung Halle
in Kooperation mit:
Kiel Economics

Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung
in Kooperation mit:
Institut für Höhere Studien Wien

Zusammenfassung

Im Frühjahr 2011 befindet sich die Weltwirtschaft im Aufschwung, vor allem aufgrund der Dynamik in den Schwellenländern. Auch Deutschland erlebt einen kräftigen Aufschwung. Die Institute erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 2,8 % und im kommenden um 2,0 % zunimmt. Für die Jahre 2011 und 2012 wird eine Arbeitslosenquote von 6,9 % bzw. 6,5 % erwartet. Die Auftriebskräfte werden sich allmählich zur Binnennachfrage verschieben. Die Löhne werden im Zuge des Aufschwungs steigen; und die Inflationsrate wird mit 2,4 % im Jahr 2011 und 2,0 % im Jahr 2012 relativ hoch sein. Der Finanzierungssaldo des Staates wird im Jahr 2011 auf 1,7 % und im Jahr 2012 auf 0,9 % in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt zurückgehen. Die größten Risiken kommen aus dem Ausland. Würde es zu einer Öl-Angebots¬verknappung aufgrund zunehmender Unruhen im arabischen Raum oder zu einer Zuspitzung der europäischen Schulden- und Vertrauenskrise kommen, dürfte dies die Wirtschaft deutlich belasten. Die Wirtschaftspolitik sollte auf Konsolidierungskurs bleiben und auf Nachbesserungen beim Europäischen Stabilisierungsmechanismus hinwirken.

Im Frühjahr 2011 befindet sich die Weltwirtschaft im Aufschwung. Vor allem in den Schwellen¬ländern ist die konjunkturelle Dynamik, nach einer Phase merklich langsamerer Expansion im Sommerhalbjahr 2010, gegenwärtig wieder hoch. Aber auch in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften haben Produktion und Handel zuletzt merklich angezogen. Freilich ist das Expansionstempo der US-Wirtschaft im Vergleich zu früheren Aufschwüngen immer noch mäßig, und im Euroraum ist das Bild ausgesprochen uneinheitlich, mit Aufschwung in Deutschland und einigen Nachbarländern und Stagnation im Mittelmeerraum.

Gegenwärtig steht die Welt unter dem Eindruck der Natur- und Reaktorkatastrophe in Japan. Erfahrungsgemäß sind die makroökonomischen Auswirkungen von Naturkatastrophen in Industrieländern zwar nicht gravierend. In diesem Fall rechnen die Institute aber mit spürbar höheren Produktionsverlusten als etwa nach dem Erdbeben im japanischen Kobe 1995. Es wird wohl einige Monate dauern, bis wieder ausreichend Stromkapazitäten zur Verfügung stehen und Produktionsengpässe behoben sind. Auswirkungen auf die Konjunktur in der übrigen Welt werden aber voraussichtlich nur kurzzeitig spürbar sein.

Ebenfalls verunsichernd wirken die politischen Umbrüche im arabischen Raum. Für die Weltkonjunktur sind sie vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie ein Risiko für die Versorgung der Weltwirtschaft mit Erdöl darstellen. Der jüngste Ölpreisanstieg ist allerdings zum größten Teil Reflex der guten Weltkonjunktur. Nur gut 10 Dollar pro Barrel dürften auf erhöhte Versorgungsrisiken zurückzuführen sein. Dies dürfte die weltwirtschaftliche Expansion nur wenig schmälern.

Auch die Preise für Industrierohstoffe und Nahrungsmittel haben seit Sommer 2010 stark zugelegt. Eine wesentliche Ursache der hohen Preisdynamik bei den Rohstoffen sind die weltweit nach wie vor sehr niedrigen Zinsen. In den USA, im Euroraum, in Großbritannien und in Japan wurden die Leitzinsen noch nicht angehoben, auch wenn die Europäische Zentralbank einen Zinsschritt angedeutet hat. Anders als die Geldpolitik ist die Finanzpolitik nicht mehr deutlich expansiv ausgerichtet, denn viele finanzpolitische Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise ergriffen worden waren, sind nun ausgelaufen.

Der weltwirtschaftliche Aufschwung wird in diesem und im kommenden Jahr andauern, er wird sich aber moderat abschwächen. Denn insbesondere in den Schwellenländern dürfte die Wirtschaftspolitik den Restriktionsgrad weiter erhöhen, um den Preisauftrieb abzumildern. In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften wird sich die Erholung fortsetzen, denn die Geldpolitik bleibt expansiv und die dämpfenden Nachwirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise lassen langsam nach. Insgesamt dürfte die Weltproduktion in diesem Jahr um knapp 3,5 % aus¬geweitet werden. Der Welthandel wird mit voraussichtlich 9 % in diesem Jahr recht kräftig und im kommenden Jahr mit 7 % expandieren.

Deutschland befindet sich im Frühjahr 2011 in einem kräftigen Aufschwung. Die schwächere Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktion im vierten Quartal 2010 war vorwiegend dem frühen Wintereinbruch geschuldet und deutet nicht auf ein Nachlassen der Auftriebskräfte hin. Der Aufschwung wird sowohl von der Nachfrage aus dem Ausland als auch von der Binnenkonjunktur getragen. In der Industrie stiegen die Auftragseingänge bis zuletzt aus allen Weltregionen kräftig. Die Unternehmen schätzen die wirtschaftliche Lage so günstig ein wie zuletzt zur Zeit der Wiedervereinigung. Die Bauwirtschaft profitiert weiterhin von den niedrigen Zinsen. Für das erste Quartal dieses Jahres lassen die vorliegenden Indikatoren einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 0,8 % erwarten.

Vieles deutet darauf hin, dass die Expansion in den kommenden Monaten kräftig bleiben wird. Wichtige Umfrageindikatoren liegen nahe bei ihren Höchstständen; die internationale Konjunktur ist weiter aufwärts gerichtet, und die Zinsen dürften niedrig bleiben. Zudem steigen Beschäftigung und Löhne, womit sich die Einkommenssituation der privaten Haushalte weiter verbessert.

Für den Prognosezeitraum ist eine allmähliche Verschiebung zwischen den Auftriebskräften zu erwarten. Die Binnennachfrage wird zwar durch die leicht restriktiv ausgerichtete Finanzpolitik und im laufenden Jahr auch durch den Kaufkraftentzug infolge der stark gestiegenen Rohstoffpreise gedämpft. Dem steht aber gegenüber, dass die einheitliche europäische Geldpolitik in Deutschland weiterhin sehr expansiv wirkt. Dadurch wird die Investitionstätigkeit stimuliert. Im Wohnungsbau dürfte sich die Aufwärtstendenz fortsetzen. Die Ausrüstungs¬investitionen werden überdies durch die steigende Kapazitätsauslastung und die günstigen Finanzierungsbedingungen angeregt. Die privaten Konsumausgaben dürften aufgrund der steigenden Beschäftigung und höherer Lohneinkommen robust zunehmen. Insgesamt wird die Inlandsnachfrage mit nahezu unverändertem Tempo zulegen. Der Außenhandel wird hin¬gegen in einem geringeren Maße zur Expansion beitragen als im Jahr 2010. Aufgrund der zügig steigenden Inlandsnachfrage werden die Einfuhren stärker ausgeweitet als in der zweiten Hälfte des Jahres 2010. Zugleich verlangsamt sich der Anstieg der Exporte vorübergehend. Dazu trägt bei, dass deutsche Unternehmen etwas an preislicher Wettbewerbsfähigkeit verlieren dürften, da die Lohnstückkosten hierzulande verstärkt zunehmen. Erst gegen Ende des Pro¬gnosezeitraums gewinnen die Ausfuhren voraussichtlich wieder leicht an Fahrt, wenn die Wirtschaft im Euroraum und in den USA etwas kräftiger expandiert.

Alles in allem erwarten die Institute, dass das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 2,8 % und im kommenden um 2,0 % zunimmt. Das 68 %-Prognoseintervall für 2011 liegt zwischen 2,0 % und 3,6 %.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt wird sich angesichts des kräftigen Aufschwungs weiter verbessern. Allerdings dürfte sich die Zunahme der Beschäftigung im Prognosezeitraum verlangsamen, weil die Ausweitung der Produktion etwas nachlässt und die Beschäftigung durch die Lohnentwicklung weniger gefördert wird. Die Institute erwarten einen Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen um 430 000 in diesem und um 275 000 im nächsten Jahr. Für die Jahre 2011 und 2012 wird eine Arbeitslosenquote von 6,9 % bzw. 6,5 % erwartet.

Infolge der kräftigen Konjunktur hat sich der Preis- und Kostenauftrieb in Deutschland beschleunigt. Bereits seit Mitte des vergangenen Jahres zieht die Inflation an; im ersten Quartal 2011 waren die Verbraucherpreise um 2,1 % höher als ein Jahr zuvor. Darin macht sich zwar in erster Linie die Verteuerung von Rohstoffen, insbesondere von Rohöl, bemerkbar. Aber auch die Kerninflation ist mittlerweile gestiegen; durch die niedrigen Zinsen der EZB wird die Preisstabilität in Deutschland zunehmend gefährdet.

Mit steigender Beschäftigung und rückläufiger Arbeitslosigkeit kommt es in immer mehr Segmenten des Arbeitsmarktes zu Knappheiten, wodurch sich der Anstieg der Effektivlöhne beschleunigen dürfte. Zwar lässt – unter der Annahme konstanter Rohstoffpreise – der Kosten¬druck von den Rohstoffmärkten her im Prognosezeitraum nach, jedoch verstärkt sich der interne Preisauftrieb. Insgesamt erwarten die Institute eine Inflationsrate von 2,4 % in diesem und von 2,0 % im kommenden Jahr.

Die anhaltend kräftige Konjunktur und die Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung schlagen sich in einer deutlich verbesserten Lage der öffentlichen Finanzen nieder. Für 2011 wird ein Budgetdefizit des Staates von 45 Mrd. Euro erwartet, das im Jahr 2012 auf 23 ½ Mrd. Euro sinken dürfte. In Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt liegt das Defizit bei 1,7 % im Jahr 2011 und bei 0,9 % im Jahr 2012. Da die Produktionslücke im Jahr 2012 leicht positiv sein wird, impliziert dies ein strukturelles Defizit von rund 1 %, nach 1 ½ % im Jahr 2011.

Risiken kommen vor allem aus dem internationalen Umfeld. Eine weitere merkliche Verteuerung von Rohstoffen, insbesondere wenn sie aus einer Angebotsverknappung resultiert, die bei einer Eskalation der Situation im arabischen Raum drohen würde, dürfte die Expansion international und national deutlich dämpfen. Auch ist die Lage der öffentlichen Haushalte vieler Länder des Euroraums nach wie vor angespannt. Eine Zuspitzung der Schulden- und Vertrauenskrise dürfte die deutsche Wirtschaft erheblich belasten.

Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass die Expansion kräftiger ausfällt als hier pro-gnostiziert. So sind die Zinsen in zahlreichen Ländern auf einem historisch niedrigen Niveau. Vor diesem Hintergrund könnten sowohl die Weltkonjunktur als auch die Konjunktur in Deutschland kräftiger expandieren als hier erwartet. Eine merklich stärkere Konjunktur würde über kurz oder lang zu einem höheren Preisauftrieb führen und könnte eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen.

Nach der Aufgabe des im Maastrichter Vertrag verankerten No-Bail-Out-Prinzips sucht die Europäische Union nach einem neuen institutionellen Rahmen für die Finanzpolitik. Der Euro-päische Rat hat am 24. und 25.3.2011 Maßnahmen mit dem Ziel beschlossen, die fiskalische Disziplin zu stärken, sogenannte makroökonomische Ungleichgewichte zu vermeiden und die wirtschaftspolitische Koordinierung auszuweiten. Ferner soll der gegenwärtige Rettungsschirm für notleidende Euroländer im Jahr 2013 durch einen Europäischen Stabilisierungsmecha¬nismus (ESM) abgelöst werden. Das klare Bekenntnis zu rigoroser fiskalischer Konsolidierung ist zu begrüßen. Auch der Ansatz des Euro-Plus-Paktes, die ökonomischen Entwicklungen in den Mitgliedsländern der Währungsunion systematisch zu diskutieren und Probleme zu identifizieren, erscheint insofern sinnvoll, als damit die Transparenz erhöht und möglicherweise politischer Handlungsdruck erzeugt wird. Dabei ist insbesondere zu begrüßen, dass die Verantwortung für eine solide Wirtschaftspolitik letztlich bei den nationalen Regierungen verbleiben soll. Dies sollte aber auch implizieren, dass die Länder die finanziellen Folgen ihres wirtschaftspolitischen Handelns selber tragen. Die beschlossenen Regelungen zum ESM lassen diesbezüglich jedoch Zweifel aufkommen. Die aktuellen Regelungen lassen vielmehr erwarten, dass die Gläubiger auch bei schwerwiegenden Finanzierungsproblemen eines Landes nicht an den Kosten beteiligt werden; dies sollte aber geschehen, damit die Märkte Risiken adäquat bewerten. Eine Beteiligung der Kapitalgeber ist nur glaubhaft, wenn ein staatlicher Zahlungsausfall nicht zu größeren Verwerfungen auf den Finanzmärkten oder im Banken¬system führt. Um dies zu erreichen, ist ein geordnetes Insolvenzverfahren für Staaten erforderlich. Der mit dem ESM eingeschlagene Weg gewährleistet dies nicht und kann letztlich dazu führen, dass die Solidarität der solideren Länder erheblich strapaziert wird. Die Institute empfehlen der Bundesregierung daher, auf Änderungen beim ESM hinzuwirken mit dem Ziel, einen funktionsfähigen und anreizkompatiblen Insolvenzmechanismus für Staaten zu schaffen.

In Deutschland hat sich die Lage der öffentlichen Finanzen bereits deutlich entspannt; schon 2011 wird die 3 %-Defizitmarke wieder unterschritten werden. Neben der guten Konjunktur tragen auch die Konsolidierungsmaßnahmen dazu bei. Die auf Basis der Finanzplanung 2010 festgelegte maximale Nettokreditaufnahme des Bundes erscheint aus heutiger Sicht hoch und dürfte deutlich unterschritten werden. Dies könnte Begehrlichkeiten für Ausgabenerhöhungen oder Steuersenkungen wecken. Wichtig ist, dass der Konsolidierungskurs in den kommenden Jahren dennoch beibehalten wird. Von umfangreichen Steuersenkungen ist gegenwärtig abzuraten, sofern ihnen keine entsprechenden Ausgabenkürzungen gegenüberstehen. Dem Gewinn an Effizienz stünde nämlich eine geringere Robustheit gegenüber, wenn Steuersenkungen dazu führen sollten, dass die Schuldenquote nicht konsequent wieder zurückgeführt wird.

Von der Finanzpolitik werden somit in den kommenden Jahren restriktive Impulse ausgehen. Diese werden in anderen Euroländern sogar deutlich stärker ausfallen müssen als in Deutschland. Dies hat auch Implikationen für die Geldpolitik. Es ist immer noch von einer Unterauslastung im Euroraum auszugehen. Auch geben monetäre Indikatoren und Inflationserwartungen keinen Anlass dazu, von unmittelbaren Gefahren für die Preisstabilität auszugehen. Mit zunehmender Schließung der Produktionslücke werden zwar Zinsschritte erforderlich. Dabei sollte die EZB aber angesichts der immer noch erhöhten Unsicherheit eine gewisse Vorsicht walten lassen.

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