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„Klinikpläne des Landes sind vernünftig“

Der Gesundheitsexperte Boris Augurzky erklärt, wie man auch mit weniger Krankenhäusern die medizinische Versorgung in Niedersachsen verbessern kann - und warum dennoch zunächst höhere Investitionen notwendig sind.

Die große Koalition aus SPD und CDU will mehr Einfluss auf die Krankenhauslandschaft in Niedersachsen nehmen. Noch vor der Wahl im September soll der Landtag ein Reformgesetz beschließen, das eine neue Struktur mit Grund-, Schwerpunkt- und Maximalversorgern möglich macht. Im HAZ-Interview erklärt der Gesundheitsexperte Prof. Boris Augurzky, warum er die Pläne für sinnvoll hält - auch wenn sie womöglich für jede fünfte Klinik das Aus bedeuten.

HAZ: Corona hat die finanzielle Situation der Krankenhäuser noch einmal verschärft. In Niedersachsen fürchten drei Viertel der 168 Kliniken um ihre Existenz. Ist das Szenario realistisch?

BA: Richtig ist, dass sich die wirtschaftliche Lage 2021 für viele Kliniken aller Voraussicht nach verschlechtert hat, allerdings nach einem wirtschaftlich guten Jahr 2020. Wenn die Lage 2022 und danach schlecht bleiben sollte, zum Beispiel weil die Patientenzahlen nicht mehr auf das Niveau von vor der Pandemie steigen, dürfte es für viele Kliniken tatsächlich schwer werden. Aber natürlich brauchen wir in Niedersachsen weiterhin Kliniken, sodass es nicht dazu kommen wird, dass drei Viertel aufgeben müssen. Die eine oder andere Klinik wird es aber treffen. 

HAZ: Viele Krankenhäuser sehen sich seit Jahren am Rande des Abgrunds, es gibt aber keine Insolvenzen. Wie ist das zu erklären?

BA: Bevor eine Klinik ihre Pforten für immer schließt, gibt es oft noch andere Wege. So kann es sein, dass die Klinik an einen anderen Träger verkauft wird, der gegebenenfalls eine Sanierung hinbekommt. Oder man rauft sich zusammen wie im Landkreis Aurich und legt die kleineren Krankenhäuser mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu einem Zentralklinikum zusammen. Vielfach gleichen jedoch kommunale Träger ein Defizit ihres Krankenhauses aus, sodass es die Insolvenz vermeiden kann. Letzteres dürfte der häufigste Grund sein, weshalb wir nur wenige Insolvenzen beobachten.

HAZ: Die Landesregierung will die Kliniklandschaft neu ordnen. Es soll nur noch Grundversorger für Notfälle, Schwerpunktversorger mit Fachabteilungen wie Kardiologie, Frauenheilkunde oder Geburtshilfe sowie Maximalversorger mit einer Mindestgröße von 600 Betten und komplettem medizinischen Know-how geben. Ist das vernünftig?

BA: Das ist grundsätzlich vernünftig. Damit kann es gelingen, die Qualität der medizinischen Versorgung zu steigern. Inzwischen ist aber fast noch wichtiger, dass eine Neuordnung auch eine Antwort auf den Engpass bei Fachkräften sein kann. In größeren Einrichtungen lassen sich die Dienste besser und flexibler organisieren als in kleineren Einrichtungen. Der Fachkräftemangel wird in den kommenden Jahren sogar noch zunehmen, wenn die stark besetzten ersten geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. 

HAZ: Wann wird es ernst?

BA: Dies geschieht etwa ab 2025. Man wird zwar versuchen, den knappen Nachwuchs mehr für das Gesundheitswesen zu begeistern. Andere Branchen werden dies jedoch ebenfalls tun. Daher müssen wir die Versorgung künftig immer stärker daran ausrichten, die Gesundheitsangebote personell besetzen zu können. Die geplante Neuordnung der Kliniklandschaft würde dabei helfen.

HAZ: Jede fünfte Klinik in Niedersachsen könnte wegfallen, heißt es. Wäre so ein Verlust zu verschmerzen?

BA: Im Durchschnitt ja. Gleichwohl müsste in jedem Einzelfall geprüft werden, welche Alternativangebote für die Menschen vor Ort nach einem Wegfall existieren. In verstädterten Regionen ist dies einfacher als auf dem Land. Und die Bettenkapazitäten der wegfallenden Häuser würden ja nicht verschwinden, sondern ein Teil davon würde woanders eingebracht werden. Außerdem dürften in Zukunft immer mehr Behandlungen ambulant erbracht werden können, im Krankenhaus, am Krankenhaus oder in der Arztpraxis. Trotz Alterung der Bevölkerung wären dann weniger Klinikbetten als heute nötig

HAZ: Niedersachsen hat die Bettenzahl bereits stärker verringert als andere Bundesländer. Bringt das einen Vorteil?

BA: Wenn wir weniger Klinikbetten als heute brauchen, sollten wir nicht bei allen Krankenhäusern die Bettenzahl nach dem Gießkannenprinzip reduzieren, sondern lieber einzelne Standorte ganz aufgeben und damit andere stärken, sonst kriegen wir die hohen Vorhaltekosten der Krankenhäuser nicht mehr bezahlt. Dabei möchte ich aber betonen, dass vermutlich jeder heutige Standort für die Gesundheitsversorgung in der Zukunft weiter benötigt wird, zum Beispiel für ambulante Angebote, Kurzzeitpflege, vielleicht für ambulantes Operieren oder wohnortnahe Reha-Angebote.

HAZ: Viele Bürger kämpfen um ihr Krankenhaus um die Ecke, auch wenn sie sich dort wegen Zweifeln an der Qualität nicht mehr behandeln lassen würden. Wie erklärt sich dieser Widerspruch?

BA: Das ist ganz einfach: Was ich habe, habe ich erst mal. Ob ich es nutze, ist eine andere Frage. Das kennt man auch von sich zu Hause, wenn man im Keller oder auf dem Dachboden schaut, was wir alles aufheben. Menschen geben ungern etwas her, auch wenn es für sie nicht mehr wirklich von großem Nutzen ist. Es ist außerdem für die betroffenen Menschen besser, zwei Optionen zur Auswahl zu haben: das Krankenhaus um die Ecke sowie das Haus mit Spezialversorgung in etwas größerer Entfernung - erst recht, wenn ich dafür nichts bezahlen muss. Aus Sicht des einzelnen Bürgers sind zwei kostenlose Angebote besser als ein kostenloses Angebot.

HAZ: Die Länder können unwirtschaftliche Häuser bisher nicht schließen: Wer im Krankenhausplan steht, darf bleiben. Wie groß schätzen Sie den Widerstand der Betreiber ein?

BA: Ein Betreiber selbst möchte eigentlich kein Krankenhaus mit dauerhaften Verlusten haben. Welcher Betreiber möchte schon aus eigener Tasche dauerhaft draufzahlen? Vielmehr sind es in der Regel die kommunalen Eigentümer, die nicht loslassen wollen, weil die betroffene Bevölkerung vor Ort sich dagegenstemmen würde. Dann zahlt man als Landkreis oder Stadt lieber das Defizit, bevor man sich den möglicherweise heftigen Streit mit den Bürgern und deren Vertretern antut. Allerdings ist dies keine nachhaltige Strategie, insbesondere wenn die Defizite mit der Zeit wachsen sollten. Aber Politik neigt nicht unbedingt dazu, in langen Zeiträumen zu denken. Kurz: Der Widerstand ist so groß wie die Haushaltskasse des kommunalen Trägers.

HAZ: Bisher ist die Versorgung zwischen Kliniken und niedergelassenen Ärzten getrennt. Erfordert die Reform eine bessere Zusammenarbeit zwischen stationärer und ambulanter Medizin?

BA: Ja, unbedingt - schon allein für die eingangs genannte erste Stufe der Grundversorgung in dem Stufenmodell. Mindestens die Grundversorgung sollte sektorenübergreifend gedacht und erbracht werden. Gerade in ländlich geprägten Regionen kann durch sektorenübergreifende Zentren die Gesundheitsversorgung stabilisiert werden. Hinzukommen müssen Telemedizinangebote sowie mobile Dienste für die Fläche.

HAZ: Die Not der Kliniken ist auch der unzureichenden Investitionsförderung der Länder geschuldet. Niedersachsen hat zuletzt 261 Millionen Euro an Fördermitteln zur Verfügung gestellt. Reicht das aus?

BA: Nach unseren Berechnungen bräuchte es mindestens eine Verdopplung der Investitionsfördermittel des Landes, um den Investitionsbedarf der Krankenhäuser zu decken. Zusätzlich braucht es eine Menge Investitionen zur Umstrukturierung der Kliniklandschaft. Wenn ich beispielsweise drei Standorte zu einem Zentralklinikum zusammenlege, muss ich erst einmal eine ganze Menge investieren, bevor ich die Früchte davon ernten kann. Strukturoptimierung wird ohne Investitionen nicht gehen.

Interview: Jens Heitmann

Das Interview erschien in der "Hannoverschen Allgemeine Zeitung" am 26.01.2022