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Was das Rekordhoch für die Investitionen bedeutet

Immer mehr Kliniken schlagen Alarm, weil sie im Coronawinter eine Überlastung fürchten. Es fehlt an Personal. Der Gesundheitsökonom Boris Augurzky erklärt, wie sich das kurzfristig ändern lässt.

In vielen Teilen Deutschlands droht den Krankenhäusern eine Überlastung durch Covid-19-Patienten. In Kempten und Immenstadt im Allgäu wird Rettungsdienstpersonal eingesetzt, um lokale Kliniken personell zu unterstützen. Sogar Arbeitsfreistellungen und Lohnausfallerstattungen werden in Aussicht gestellt. Die Dienstkleidung werde durch die Kliniken gestellt, heißt es in einer internen Nachricht. Auch aus anderen Gebieten gibt es ähnliche Berichte.

Hinter den Hilferufen der Krankenhäuser steckt neben der besonderen Belastung durch Covid-19-Patienten vor allem eins: Personalmangel. Denn Intensivbetten oder Beatmungsgeräte sind vielerorts ausreichend vorhanden. Doch es fehlen Fachkräfte, um die Schwerkranken zu versorgen und die Apparate zu bedienen. Boris Augurzky, 49, ist Volkswirt und Mathematiker und erforscht am RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung seit Jahren die Ökonomie des Gesundheitswesens. Augurzky ist Mitglied eines Expertenbeirats der noch geschäftsführend amtierenden Bundesregierung, welcher die Auswirkungen von Maßnahmen auf die wirtschaftliche Lage von Krankenhäusern überprüfen soll.

SPIEGEL: Herr Augurzky, droht aus Ihrer Sicht ein Zusammenbruch der Krankenhaus-Versorgung, weil die Zahlen der Covid-19-Infizierten gerade ein Rekordhoch erreichen?

Augurzky: Das ist eine regionale Fragestellung. Im Südosten der Republik, also etwa in Sachsen , Thüringen und Bayern ist wirklich viel los. Punktuell kommt es dort auch zu Überlastungssituationen.

SPIEGEL: Was bedeutet Überlastung genau?

Augurzky: Betten sind in den meisten Fällen da, auch die Geräte. Es fehlt das Personal. Viele Pflegefachkräfte arbeiten in Teilzeit. Corona hat besonders für das Personal auf den Intensivstationen die Attraktivität ihrer Arbeit nicht gesteigert.

SPIEGEL: Wie gehen die Häuser akut damit um?

Augurzky: Man kann bei Überlastung dreierlei Dinge tun: Entweder man meldet Betten ab, nimmt also weniger Patienten auf. Das kann regional zu Problemen in der Versorgung führen. Oder man verlegt Kranke in Krankenhäuser, in denen weniger los ist. Manche Kliniken entscheiden sich dafür, trotzdem zu behandeln, und gehen an die Belastungsgrenze für alle. »Wir haben derzeit keinen bundesweit flächendeckenden Engpass.«

SPIEGEL: Wenn ein Krankenhaus mehr Patienten aufnimmt, als es laut Mindestpersonalschlüssel aufnehmen darf, werden bisweilen Strafzahlungen fällig.

Augurzky: Ja, das kann passieren. Das ist ein Instrument zur Qualitätssicherung, um das Versorgungsniveau hoch zu halten. Wir haben derzeit keinen bundesweit flächendeckenden Engpass. Deshalb ist es sicher sinnvoll, in solchen Fällen Patienten dort zu behandeln, wo es für die jeweilige Situation ausreichend Personal gibt. Das das ist nicht optimal. Patienten liegen dann unter Umständen weit weg von ihrem Heimatort, der Transport muss organisiert werden, Besuche sind noch schwerer. Wenn man das alles umgehen will, kommt man am Ende immer wieder zur einzigen Lösung: mehr Fachpersonal. Denn der Mangel betrifft alle. Unikliniken, kleinere Häuser, Spezialhospitäler. Mancherorts kann man sich zum Beispiel nicht um alle Geburten kümmern, weil Hebammen fehlen.

SPIEGEL: Also mehr Geld für die Pflege?

Augurzky: Nicht pauschal. Die geringere Bezahlung ist vor allem ein Problem in der Altenpflege. In Krankenhäusern sind die Gehälter passabel, aber man sollte aktuell an temporäre Coronazulagen denken, um Fachpersonal in der Teilzeit zu mehr Arbeitsstunden zu motivieren. Das wäre eine kurzfristige Maßnahme.

SPIEGEL: Was kann man sonst tun?

Augurzky: Wir müssen vor Ort improvisieren: kurzfristig Regeln außer Kraft setzen und, wo möglich, Fachpersonal aus anderen Bereichen heranholen. Aus der Pflege, besonders der Anästhesiepflege etwa, die können vielleicht in Spitzen und lokal begrenzt pflegerische Aufgaben auf einer Intensivstation übernehmen – unter Anleitung vom Krankenhausfachpersonal. Aber das geht natürlich nur begrenzt. Mittelfristig muss der Pflegeberuf attraktiver werden: mehr Kompetenzen, bessere Aufstiegschancen, planbare Dienste. Nur so gewinnt man Leute zurück. Das bedeutet schmerzhafte Veränderungen im System, die nicht jeder will. Aber in solchen Krisen zeigen sich die Schwachstellen noch deutlicher als sonst.

SPIEGEL: Was macht Corona mit den Krankenhäusern wirtschaftlich?

Augurzky: Im vergangenen Jahr gab es das Covid-19-Krankenhaus-Entlastungsgesetz. Kliniken, die Betten für Coronapatienten freihielten, wurden dafür mit durchschnittlich 560 Euro pro Tag und Bett entschädigt. So wollte man wirtschaftlich ausgleichen, dass Krankenhäuser Operationen absagten, um ihre Kapazitäten zu schonen. Diese Regelung ist ausgelaufen, aber es wird auch wieder normal operiert. »Das Alter der Infizierten ist ein wichtiger Indikator dafür, wie demnächst die Intensivstationen belegt sein könnten.«

SPIEGEL: Müsste man die Regelung wieder in Kraft setzen?

Augurzky: In vollem Umfang eher nicht. Zum einen liegt es in der Verantwortung jedes Krankenhauses, zu entscheiden, ob es Operationen lieber absagt. Das kann man nicht flächendeckend verordnen, denn es kommt wirklich auf die Lage vor Ort an, etwa auf die freien Kapazitäten von umliegenden Häusern. Ich bin dafür, die Corona-Inzidenzwerte granularer zu sehen. Das Alter der Infizierten ist ein wichtiger Indikator dafür, wie demnächst die Intensivstationen belegt sein könnten. Das RWI hat einen solchen Frühindikator entwickelt. Steigen seine Werte, macht es Sinn, andere Patienten gar nicht erst einzubestellen, sondern sich auf den Ansturm vorzubereiten und das verfügbare Personal zusammenzuziehen.

SPIEGEL: Das Freihalten ist teuer für die Krankenhäuser, weil dann Einnahmen fehlen. Gibt es jetzt gar keine finanzielle Hilfe mehr?

Augurzky: Doch. Wer 2021 weniger Erlöse als 2019 hat, kann das geltend machen. Es werden dann 98 Prozent der Differenz zu 2019 ersetzt. Das löst aber nicht kurzfristige Liquiditätsprobleme, wenn man den Betrieb vor Ort herunterfahren muss. Hier können schon über wenige Wochen Lücken entstehen, die manche Krankenhäuser in große Schwierigkeiten bringen. Man muss aber auch sagen: Finanziell bricht das komplette System nicht gleich zusammen, weil in manchen Regionen sich die Lage zuspitzt.

SPIEGEL: Verdienen manche Krankenhäuser unter Umständen sogar gut an Covid-19-Patienten?

Augurzky: Eher nein. Das sind Patienten, die eine sehr umfassende und kostenintensive Therapie benötigen. Und es kommt der Ausfall von Einnahmen aus anderen Eingriffen dazu. Wirtschaftlich schlägt sich um Covid-19- Kranke niemand. »Wer erkrankt, belastet das System.«

SPIEGEL: In der gesellschaftlichen Debatte über Impfverweigerer setzt sich zunehmend die Sichtweise durch, dass Ungeimpfte den Rest der Gesellschaft in Geiselhaft nehmen. Gilt das auch für das Krankenhaussystem?

Augurzky: Das kann man so sagen. Wer erkrankt, belastet das System. Zwar trifft es auch Geimpfte. Aber mancher Ungeimpfte hätte mit einer Coronaimpfung erst gar nicht im Krankenhaus landen müssen. Man darf nicht vergessen: Es gibt auch noch andere Krankheiten als Covid-19. Für diese Patienten fehlen zum Teil wertvolle Kapazitäten, wenn Ungeimpfte sie blockieren.