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„Minijobs sind eine Falle"

RWI-Präsident Christoph Schmidt über die Pläne der Ampel-Koalition

Herr Schmidt, entdecken Sie Aufbruchstimmung im Sondierungspapier der selbsternannten Fortschrittskoalition?

Durchaus. Ich finde das Papier als Grundlage für Koalitionsverhandlungen gelungen. Die genannten Ziele sind richtig, unter anderem Modernisierung, weniger Bürokratie, schnellere Verfahren.

Dass es keine neuen Steuern und keine höheren Steuern gibt, dürfte Sie auch freuen.

Es gibt einige Punkte, bei denen man die Handschrift des kleinsten der drei potenziellen Koalitionspartner erkennt. Dazu gehört auch der korrekte Hinweis, dass es beim Klimawandel auf die Gesamtreduktion von CO2 ankommt und nicht auf die sektoralen Beiträge. Und es fehlen Giftpillen wie vor Jahren etwa die Mütterrente.

Es gibt sogar ein Bekenntnis zur Schuldenbremse.

Das lässt hoffen.

Und im Europakapitel ist von soliden und nachhaltigen Staatsfinanzen die Rede – das klingt auch nach FDP.

Warten wir ab, was am Ende konkret vereinbart wird. „Die Wahrheit liegt auf’m Platz“, sagt man bei uns im Ruhrgebiet. Aber wenn wir schon bei Europa sind: Gerade im Klimakapitel fehlt der Hinweis auf die internationale Einbindung. Vor der Wahl hat der Kanzlerkandidat der SPD eine Idee aufgegriffen, für die wir Ökonomen schon lange werben: eine internationale Allianz für den Klimaschutz. Denn eine allein auf Deutschland oder auf Europa zielende Klimapolitik kann nicht erfolgreich sein, dessen sollte sich die neue Regierung bewusst sein. Hier hoffe ich ebenso auf Nachbesserungen wie bei der Rente.

Das Rentenniveau bleibt bei 48 Prozent und das Rentenalter wird auch nicht verändert in der neuen Legislaturperiode.

Wir brauchen aber eine Antwort auf den demographischen Wandel. Eine echte Fortschrittskoalition müsste das Thema längere Lebensarbeitszeit nach 2030 bereits von Anfang an in den Blick nehmen.

Was stellen Sie sich vor?

Es geht darum, wie in der Zukunft zusätzlich gewonnene Lebensjahre zwischen längerem Arbeitsleben und längerem Ruhestand aufgeteilt werden. Worauf wir jetzt zusteuern ist, dass die gewonnenen Lebensjahre nach 2030 ausschließlich den Ruhestand verlängern. Das wird die erwerbstätige Bevölkerung aber nicht finanzieren können. Damit später, wenn diese Einsicht nicht länger zu verleugnen ist, keine drastischen Einschnitte beschlossen werden müssen, müsste sich die Ampel-Koalition jetzt schon mit dem Thema befassen.

Die konzentriert sich auf Geldausgeben: Massive Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung, Forschung und Infrastruktur sind geplant. Haben Sie eine Idee, wo das Geld dafür herkommt?

Mir scheint erst mal eine ganz wichtige Einsicht auch bei den möglichen Koalitionären vorhanden zu sein: Der weitaus größte Teil der Investitionen, auch im Klimaschutz, findet im privaten Bereich statt. Daraus ergibt sich die Aufgabe, vor allem private Investitionen zu ermöglichen und attraktiv zu machen.

Und wie?

Es geht um die richtigen Rahmenbedingungen, um Investitionen attraktiver zu machen und sie vor allem rasch umsetzen zu können. Dazu kann die digitalisierte Verwaltung beitragen und die Halbierung von Verfahrenszeiten, wie es im Sondierungspapier steht. Das ist aber ein dickes Brett.

Grüne und SPD würden gerne 50 Milliarden Euro jedes Jahr ausgeben und orientieren sich dabei auch an Empfehlungen der Wirtschaftswissenschaft.

Man sollte das nicht mit einem vermeintlichen Masterplan angehen, sondern loslegen und dann Schritt für Schritt die konkreten Bedarfe ermitteln. Die 50 Milliarden ergeben sich nicht zuletzt aus der großzügigen Einschätzung der kommunalen Bedarfe. Wenn man sich über die vergangenen Jahre die Investitionstätigkeit von Bund, Ländern und Kommunen anschaut, sieht man, dass diese vor allem bei den Kommunen nachgelassen hat.

Große Teile der Industrie – Chemie, Stahl, Zement – werden sich ohne die Unterstützung der Steuerzahler nicht dekarbonisieren lassen. Kann das funktionieren mit der bundeseigenen KfW als „Innovations- und Investitionsagentur“?

Die Förderbank kann über verbilligte Kredite einen Beitrag leisten. Ein weiteres Vehikel wären Carbon Contracts for Difference. Damit können wir aber nicht alle Klimaschutzinvestitionen absichern. Am Beispiel der EEG-Umlage beim Strom sehen wir, wie lange ein schlecht gestricktes Anreizsystem nachwirkt. Je nachdem, wie hoch die soziale und die private Rendite in einem Projekt sind, sollten sich daher die privaten und öffentlichen Anteile bei der Finanzierung ergeben. Das ist schwer zu berechnen. Stimmt. Aber wenn Leitungen oder ein Umschlaghafen für Wasserstoff aus Nordafrika oder Australien gebaut werden, überwiegt das gemeinwirtschaftliche Interesse. Und wenn Unternehmen die Leitungen nutzen oder ihre Produktion auf Wasserstoff umstellen, steht dagegen das einzelwirtschaftliche Interesse im Vordergrund und die Privaten sollten das überwiegend selbst schultern.

Obwohl die Politik die Richtung und das Tempo vorgibt?

In der Geschwindigkeit, die jetzt gefordert ist, könnte das ein Privater kaum machen, ohne gegen die Interessen seiner Anteilseigner und Beschäftigten zu verstoßen. Also braucht es in der Tat einen staatlichen Beitrag. Aber das ist ein Verhandlungsspiel, das nicht von vornherein dadurch entschieden werden sollte, dass der Staat signalisiert, er würde im Zweifelsfalle alles übernehmen.

Viele Kosten des Klimaschutzes übernimmt nicht der Staat, sondern der Endverbraucher, wie etwa bei der EEG-Umlage.

Heute leiden wir darunter, wie der Kapazitätsaufbau von Erneuerbarer Energie finanziert wurde. Denn die EEG-Umlage trägt massiv dazu bei, dass der Einsatz von Strom im Wärme- oder Verkehrsbereich unwirtschaftlich ist. Deshalb ist es richtig, dass die neue Regierung die Umlage über den Haushalt finanzieren will, um die Sektorenkopplung zu beflügeln.

Ist ein hoher CO2-Preis das wichtigste Instrument für die klimaschonende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft?

Ja, wenn man die Kosten der Transformation möglichst niedrig halten will. Deshalb ist auch die Frage berechtigt, ob der Anstieg des CO2-Preises wie derzeit vorgesehen ambitioniert genug ist.

Eine weitere Preiserhöhung bei Sprit, Gas, Heizöl und Strom ist kaum vorstellbar.

Das ist ein Knackpunkt der ganzen klimapolitischen Debatte. Dabei haben wir auf dem Reißbrett eine attraktive Lösung: Mit einem einheitlichen Preissystem existiert ein effizientes Instrument, gleichzeitig kann mit den Einnahmen aus dem System die Verteilungsfrage gelöst werden. Das ist übrigens das bewährte Prinzip der sozialen Marktwirtschaft: ein effizientes Marktergebnis erzielen und gleichzeitig ein Verteilungssystem über Steuern und Transfers implementieren. Im Ergebnis wird die ungleiche Verteilung der Primäreinkommen durch Steuern und Transfers zu einem großen Teil korrigiert.

Und was hat das mit einem höheren CO2-Preis zu tun?

Wenn ich weiß, dass mir das System der Umverteilung einen fairen Anteil am Marktergebnis sichert, dann mache ich bei der Marktlösung mit. Das gilt für den einzelnen Verbraucher in einer marktwirtschaftlich organisierten Energiewende ebenso wie für ganze Volkswirtschaften in einem Klima-Club. Will man Länder mit einer starken Bedeutung der Kohle, wie etwa Polen, zum Mitmachen bei einem umfassenden europäischen Emissionshandel bewegen, wird man ihnen dafür etwas geben müssen, mehr CO2-Zertifikate oder Finanztransfers.

Motiviert das Energiegeld die Verbraucher zum Mitmachen, wie die Grünen glauben?

Die Ausschüttung pro Kopf sorgt ja dafür, dass Menschen mit weniger Einkommen davon relativ zu ihrer Leistungsfähigkeit mehr haben als diejenigen mit höheren Einkommen. Mehr Last auf die stärkeren Schultern. Will man für diese Lösung werben, muss man aber auch selbst daran glauben. Wer hingegen CO2-Preise als Ursache der Belastung sieht und nicht als Bote einer unausweichlichen Botschaft, wird das nicht können.

Der Mindestlohn soll auf zwölf Euro steigen. Welche Risiken impliziert ein Sprung von aktuell 9,60 Euro auf zwölf Euro?

Es ist sicherlich nicht das Ende des Abendlandes. Wie wir heute wissen, hat die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 offenbar keinen größeren Schaden angerichtet. Aber was wir damals befürchtet haben, wird jetzt bestätigt: Es ist trotz der Einrichtung einer politikfernen Kommission im Ernstfall ein rein politischer Mindestlohn.

Die FDP akzeptiert die zwölf Euro, dafür bleiben die Minijobs, die nach einer Studie des Instituts der Bundesagentur für Arbeit allein in kleineren Firmen 500 000 sozialversicherungspflichtige Jobs verdrängen.

Wie sich gezeigt hat, sind die Minijobs für viele nicht die Brücke in reguläre Beschäftigung, sondern eher eine Falle, aus der man nicht herauskommt. Das Prinzip sollte daher überdacht werden. Positiv ist, dass die drei Parteien das Arbeitszeitgesetz lockern wollen und dazu Experimentierräume für die Gestaltung der täglichen Arbeitszeit geschaffen werden.

Das Interview führte Alfons Frese. Es erschien im Print beim Tagesspiegel am 25.10.2021.