Zum Hauptinhalt springen

Femizid-Statistik: Von 0 auf 360 – warum präzise Zahlen Frauen besser schützen

Gewalt gegen Frauen ist ein gravierendes gesellschaftliches Problem. Um die richtigen Schutzmaßnahmen zu entwickeln, brauchen wir präzise Statistiken.

Unsere Unstatistik des Monats September befasst sich mit der Femizid-Statistik in Deutschland. Die Zahlen stammen aus dem „Bundeslagebild 2023: Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen“ des Bundeskriminalamts (BKA). Am 5. September 2025 hat der Satiriker Jan Böhmermann im ZDF diesem Bericht fast eine komplette Sendung gewidmet, in der die ehemalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser gezeigt wird. Auf einer Pressekonferenz sagte sie: „Fast jeden Tag wird in Deutschland eine Frau oder ein Mädchen getötet. Das bedeutet, fast jeden Tag ein Femizid.“

Diese Gleichsetzung ist problematisch. Sie verwischt wichtige Unterschiede und erschwert gezielten Schutz.

Was genau ist ein Femizid?

Ein Femizid liegt definitionsgemäß vor, wenn eine Frau vorsätzlich getötet wird, weil sie eine Frau ist. In den meisten Fällen weiß man das jedoch nicht so genau. Der Lagebericht des BKA weist auf diese Unsicherheit bereits auf den ersten Seiten hin. Eine Möglichkeit ist es, alle Fälle zu zählen, bei denen bekannt ist, dass ein Täter aus Frauenhass getötet hat. 2023 gab es keinen einzigen solchen Fall.

Eine weitere Möglichkeit ist die statistische Ableitung. Delikte, die überwiegend Frauen treffen, gelten als „geschlechtsspezifisch motiviert“: „Zunächst wurden die Delikte identifiziert, die immer überwiegend Mädchen und Frauen betreffen, dann die Delikte, die erst bei Berücksichtigung weiterer Aspekte dieses Kriterium erfüllen (so betrifft bspw. Körperverletzung erst im Kontext Häuslicher Gewalt überwiegend weibliche Opfer).“ Die Daten stammen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Laut BKA-Bericht gab es 938 weibliche Opfer versuchter oder vollendeter Tötungsdelikte, davon 360 tatsächlich getötete Mädchen und Frauen.

Von der Definition zur Statistik

Insgesamt werden leicht überwiegend Männer Opfer von vorsätzlichen Tötungsdelikten. Innerhalb von Ehe, Partnerschaft oder Familie sind allerdings Frauen deutlich öfter betroffen. Es mag Zweifelsfälle geben: Ein Partner oder Familienmitglied tötet aus Überforderung, etwa wegen Drogenmissbrauch, Alter oder Krankheit des Opfers. Aus der PKS ergibt sich die Gesamtzahl solcher Fälle, aber nicht, in welcher Beziehung Tatverdächtiger und Opfer standen – neben Angehörigen könnten etwa auch Pflegekräfte die Täter gewesen sein.

Wenn eine Frau bei einem Sexualdelikt getötet wurde oder der Täter (genauer: der Tatverdächtige) ihr Ehe- oder Lebenspartner oder ein anderer Familienangehöriger war, kann man plausibel annehmen, dass sie wegen ihres Geschlechts getötet wurde. Es wäre allerdings ebenso plausibel anzunehmen, dass in vergleichbaren Fällen das Geschlecht auch dann eine Rolle spielt, wenn ein Mann das Opfer ist.

Wir haben daher die PKS 2023 und die seit Anfang April dieses Jahres vorliegende PKS 2024 entsprechend ausgezählt. Als „mutmaßlich geschlechtsspezifische, gegen Männer bzw. Frauen gerichtete, vorsätzliche Tötungsdelikte“ werten wir:

- Mord in Zusammenhang mit Sexualdelikten (PKS-Schlüssel 012000)

- Sonstiger Mord (010079), Totschlag (020010), minder schwerer Totschlag (020020) und Körperverletzung mit Todesfolge (221010) jeweils nur, wenn Tatverdächtiger und Opfer in einer familiären Beziehung standen („Häusliche Gewalt“). In derartigen Konstellationen waren die Opfer in rund zwei Dritteln aller Fälle weiblich.

So gezählt, ist die Anzahl weiblicher Opfer für das Jahr 2023 erheblich niedriger als die im BKA-Bericht genannten 938 Femizide, wie die folgende Grafik zeigt.

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten des Bundeskriminalamts (2023, 2024). https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/pks_node.html.

Femizide, die vermutlich gar keine sind

Der BKA-Bericht definiert, dass vorsätzliche Tötungsdelikte an Frauen als Femizide zu werten sind, wenn sie Frauen überwiegend betreffen, und ergänzt korrekterweise, dass dies bei den oben angeführten Straftaten der Fall ist, wenn es sich um Fälle Häuslicher Gewalt handelt. Gezählt wird dann aber anders, nämlich alle vorsätzlich getöteten Frauen (bzw. diejenigen, die den Angriff überlebt haben).

Richtig ist: 2023 waren 938 Frauen und Mädchen Opfer von vorsätzlichen Tötungsdelikten; 360 davon starben. Das bedeutet, fast jeden Tag eine getötete Frau. Falsch hingegen ist die Aussage: „Das bedeutet, fast jeden Tag ein Femizid.“ Richtig ist vielmehr, dass – wenn man sich der BKA-Definition anschließt – im Jahr 2023 maximal 530 Tötungsdelikte Femizide waren, davon 249 vollendete.

Drei von zehn vollendeten und fünf von zehn versuchten „Femiziden“ waren sehr wahrscheinlich keine. Vielleicht sogar mehr, aber diese Fälle dürften unstrittig sein.

Diese Unterscheidung ist nicht akademisch. Sie zeigt, wo der Schutz ansetzen muss.

Häusliche Gewalt trifft vor allem Frauen

Die Statistik offenbart das eigentliche Drama: Frauen werden vor allem von Partnern und Familienmitgliedern getötet.

Im Jahr 2024 sind die Fälle mutmaßlich geschlechtsspezifischer, vorsätzlicher Tötungsdelikte gegenüber Frauen zurückgegangen, gegenüber Männern gestiegen. Das Geschlechterverhältnis hat sich also etwas angenähert. Unverändert geblieben ist die Geschlechterverteilung bei vorsätzlichen Tötungsdelikten in der Partnerschaft. In vier von fünf Fällen ist dabei das Opfer eine Frau. Bei mehr als jeder zweiten Frau, die Opfer eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes wurde, war der Täter ein Familienmitglied; bei mehr als jeder dritten war es der Partner oder die Partnerin. Bei den Männern war es knapp in jedem siebten Fall ein Familienmitglied bzw. in knapp jedem zwanzigsten die Partnerin oder der Partner.

Viele, zu viele Mädchen und Frauen sind von tödlicher Gewalt betroffen – überwiegend durch Familienmitglieder. Wie viele von ihnen getötet werden, weil sie Frauen sind, wissen wir nicht. Es gibt große Probleme bei der Definition und noch viel größere Probleme dabei, die Definition in eine Statistik zu überführen. Die Lösung kann jedoch nicht sein, diese Unsicherheit zu ignorieren und mit voller Überzeugung jedes weibliche Opfer als Femizid darzustellen. Das BKA wäre gut beraten, in Zukunft eine andere Bezeichnung zu wählen. Nicht um zu verharmlosen, sondern um darauf aufmerksam zu machen, dass wir erschreckend wenig darüber wissen, wie viele Frauen und Mädchen in Deutschland tatsächlich von geschlechtsspezifisch motivierter Gewalt betroffen sind.

Ihr/e Ansprechpartner/in dazu:

Dr. Katharina Schüller (STAT-UP), Tel.: (089) 34077-447

Dr. Niels Oelgart (Kommunikation RWI), niels.oelgart@rwi-essen.de, Tel.: (0201) 8149-213

Alexander Bartel (Kommunikation RWI), alexander.bartel@rwi-essen.de, Tel.: (0201) 8149-354

Jetzt neu: Unstatistik des Monats – der Podcast zum Blog auf Spotify.

Hinweis: Die Podcastfolgen wurden mit KI generiert.

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unterwww.data-literacy-charta.deabrufbar.

Weiterführende Literatur: „Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich – Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“, das zweite Unstatistik-Buch (ISBN 9783593516080), erhältlich im Buchhandel zum Preis von 22 Euro. Es wurde im Oktober 2023 mit dem „getAbstract-International Book Award 2023“ in der Kategorie Business Impact ausgezeichnet. Das Unternehmen getAbstract hat sich auf die Zusammenfassungen von Wirtschaftsbüchern und Klassikern der Weltliteratur spezialisiert und vergibt seine Awards jährlich im Rahmen der Frankfurter Buchmesse. Speziell mit der Bewertung von Risiken beschäftigt sich das Buch „Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“von Unstatistik-Autor Prof. Dr. Gerd Gigerenzer.

Bei Weiterverbreitung von Texten aus der Reihe „Unstatistik des Monats“ muss klar erkennbar sein, dass es sich um die Übernahme eines fremden Textes handelt. Zudem ist die Quelle https://www.unstatistik.de zu nennen. Bitte informieren Sie die Pressestelle des RWI über die Verwendung des Textes unter presse@rwi-essen.de. Das Urheberrecht bleibt bestehen.