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Der Mythos von den faulen Deutschen – ein Remake

Die „Unstatistik des Monats“ Mai ist die verzerrte Darstellung deutscher Arbeitszeiten, die der Kanzler als Aufruf zur „gewaltigen Kraftanstrengung“ heranzieht. Die OECD warnt ausdrücklich vor solchen Ländervergleichen. Daten zur Arbeitsproduktivität zeichnen hingegen ein differenzierteres Bild: Nicht Faulheit, sondern strukturelle Hürden bremsen unsere Produktivität.

Der Mai beginnt mit dem Tag der Arbeit – einem Feiertag. Bundeskanzler Friedrich Merz ist der Meinung, dass es in Deutschland zu viele Feiertage gibt und wir Deutschen „wieder mehr und vor allem effizienter“ arbeiten müssten. Es brauche eine „gewaltige Kraftanstrengung“ von den Menschen, um das Land wieder wettbewerbsfähig zu machen. Also raus aus der Hängematte und ran an den Schreibtisch? Oder steckt hinter dieser politischen Rhetorik eine Fehlinterpretation statistischer Daten?

Merz beruft sich auf eine Kurznachricht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die im Zentrum unserer „Unstatistik des Monats“ Mai steht. Das IW vergleicht darin Zahlen aus dem Jahr 2023 zur durchschnittlichen jährlichen Arbeitszeit in verschiedenen Industrieländern. Die Quelle ist eine OECD-Statistik, die mit einem deutlichen Warnhinweis versehen ist: „The data are intended for comparisons of trends over time; they are unsuitable for comparisons of the level of average annual hours of work for a given year, because of differences in sources and methods of calculation.“ Darauf haben wir bereits in unserer Unstatistik vom August 2023 hingewiesen.

Die Zahlentrickserei hinter der Arbeitszeit-Debatte

Das IW argumentiert nun, dass es ja nicht nur um die absolute Zahl der Arbeitsstunden je Erwerbstätigen im, laut OECD, irreführenden Ländervergleich gehe. Vielmehr sei in Ländern wie Polen, Tschechien, Griechenland und Spanien die Zahl der Arbeitsstunden je Einwohner im Erwerbsalter in den vergangenen zehn Jahren stark gestiegen. Nur in Deutschland stagniere sie. Doch diese selektive Darstellung verschleiert mehr als sie enthüllt. Warum werden gerade diese Länder zum Vergleich herangezogen? Und was sagen diese Zahlen wirklich über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aus?

Statistik braucht Kontext – und dieser erzählt eine andere Geschichte

Aber auch die Zahl der Arbeitsstunden je Einwohner im Erwerbsalter ist nicht aussagekräftig in Bezug auf die Frage, ob in Deutschland ausreichend und effizient genug gearbeitet wird. Relevant ist der Kontext: Produktivität, Erwerbsbeteiligung, strukturelle Hürden. Und in der Gesamtschau erzählen die Statistiken eine ganz andere Geschichte.

Ein Blick auf die Daten offenbart die eigentliche Realität: Die inflations- und kaufkraftbereinigte Arbeitsproduktivität misst, wie viel BIP pro Erwerbstätigen und geleistete Stunde erwirtschaftet wird. Wir haben in einer einzigen Grafik das aktuelle Niveau der Arbeitsproduktivität, das Produktivitätswachstum und den Anstieg der geleisteten Arbeitsstunden pro Kopf dargestellt. Die x-Achse zeigt die Veränderung der geleisteten Arbeitsstunden, die y-Achse zeigt die Veränderung der Produktivität je Arbeitsstunde – jeweils über einen Zeitraum von 10 Jahren. Die Farbe und Größe der Blasen gibt die Produktivität an. Die Referenz ist 100 als Durchschnitt der kaufkraftbereinigten Arbeitsproduktivität in Europa.

Das Bild zeigt sehr klar die Trennung zwischen Ländern mit geringer und hoher Arbeitsproduktivität. Dass erstere im Mittel ein höheres Produktivitätswachstum aufweisen, ist grundsätzlich positiv – aber schmälert keinesfalls die Leistung von Ländern, in denen schon lange ein hohes Produktivitätsniveau vorherrscht.

(Am Rande bemerkt: Irland als Steuerparadies ist ein statistischer Ausreißer – das BIP dort ist hochgradig verzerrt. Mit den neu überarbeiteten Standards für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung SNA 2025 wird versucht, dieser Verzerrung gegenzusteuern.)

Die unbequeme Wahrheit über deutsche Produktivität

Richtig ist: Im europäischen Vergleich schafft eine in Deutschland geleistete Arbeitsstunde einen überdurchschnittlich hohen Wert. Wir arbeiten seit vielen Jahren sehr effizient. Würden wir mehr arbeiten, könnte das die Wirtschaftsleistung vermutlich steigern – dafür braucht es keine Studie. Aber ist das wirklich das Kernproblem? Oder ist die Frage nach dem "Mehr arbeiten" nur ein politisches Ablenkungsmanöver von tieferliegenden strukturellen Problemen? Viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, was uns davon abhält, mehr zu arbeiten.

Abbildung 1: Arbeitsproduktivität und Arbeitsstunden im europäischen Vergleich – Entwicklung zwischen 2013 und 2023.

Quelle: OECD, eigene Darstellung der „Unstatistik des Monats“.

Eine Vielzahl weiterer Fakten hat Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in einem LinkedIn-Beitrag zusammengestellt:

Während in Deutschland die Arbeitszeit in Vollzeit konstant geblieben ist, nimmt die Arbeitszeit in Teilzeit zu und die Erwerbsbeteiligung steigt erheblich an. Das liegt daran, dass immer mehr Menschen in den Arbeitsmarkt einsteigen, aber nur in Teilzeit. Vor allem sind es Frauen, Studierende und ältere Menschen. Laut Weber hat die „Generation Z“ die höchste Erwerbsbeteiligung seit Jahrzehnten – mehr Menschen teilen sich also die Arbeit untereinander auf, was man durchaus als einen Trend zu mehr Fairness interpretieren kann. Überstunden gehen zurück, aber nur scheinbar. Denn sie landen mittlerweile häufig auf Arbeitszeitkonten und tragen zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten bei. Nur der Krankenstand nimmt zu – und bei genauerem Hinsehen ist das, so Weber, wohl hauptsächlich ein statistischer Effekt der elektronischen Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung: Früher gab es eine Dunkelziffer, heute wird jede Krankschreibung digital erfasst.

Die wahren strukturellen Probleme – jenseits der Arbeitszeit-Debatte

Natürlich ist auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht alles optimal. Der demografische Wandel führt bereits jetzt zu Belastungen. Und in wenigen Jahren – wenn die Babyboomer in Rente gehen – werden diese Belastungen immens. Das wissen wir schon lange. Echte Lösungen, wie eine Anhebung des Renteneintrittsalters, fehlen. Sachliche Diskussionen, etwa wie man mehr Arbeitsmigranten gewinnen kann, und wie hier lebende Ausländer besser in Erwerbstätigkeit gebracht werden könnten, sind rar.

Die Minijob-Falle

Auch fehlt die systematische Evaluation einer Maßnahme, die regelmäßig in den Koalitionsverträgen auftaucht – und vermutlich eher schadet als nützt. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Regina Riphahn hat gezeigt, dass geringfügige Beschäftigungsverhältnisse Mütter vom regulären Arbeitsmarkt fernhalten: 24 Jahre nach der Einführung von Minijobs und fünf Reformen später weist sie nach, dass die „Minijob-Falle“ zu einer lange nachwirkenden „Motherhood Penalty“ führt. Das bedeutet: Viele Frauen, die nach der Geburt eines Kindes in einen Minijob einsteigen, arbeiten selbst nach zehn Jahren noch in geringfügiger Beschäftigung. Das Interesse an diesem arbeitsmarktpolitischen Bankrott ist mäßig. Mit Müttern gewinnt man eben keine Wahlen. Hier geht viel Potenzial für mehr Arbeit verloren.

Die wahre "gewaltige Kraftanstrengung" besteht also nicht darin, den Deutschen einzureden, sie seien zu faul – sondern darin, endlich die seit Jahrzehnten bekannten strukturellen Probleme anzugehen. Dazu gehört auch, mehr Daten-, KI- und Statistik-Kompetenzen aufzubauen. Diese sind in einer zunehmend von Digitalisierung und Daten geprägten Wirtschaft unerlässlich. Nicht nur zur Steigerung der Produktivität, sondern auch zur Senkung der Statistical Illiteracy. Wenn das gelungen ist, können wir Unstatistiker uns endlich in die Hängematte legen – nicht aus Faulheit, sondern weil wir dann unsere Arbeit getan haben.

Ihr/e Ansprechpartner/in dazu:

Katharina Schüller (STAT-UP), Tel.: (089) 34077-447
Alexander Bartel (Kommunikation RWI), Tel.: (0201) 8149-354, alexander.bartel@rwi-essen.de

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unterwww.data-literacy-charta.deabrufbar.

Weiterführende Literatur: „Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich – Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“, das zweite Unstatistik-Buch (ISBN 9783593516080), erhältlich im Buchhandel zum Preis von 22 Euro. Es wurde im Oktober 2023 mit dem „getAbstract-International Book Award 2023“ in der Kategorie Business Impact ausgezeichnet. Das Unternehmen getAbstract hat sich auf die Zusammenfassungen von Wirtschaftsbüchern und Klassikern der Weltliteratur spezialisiert und vergibt seine Awards jährlich im Rahmen der Frankfurter Buchmesse. Speziell mit der Bewertung von Risiken beschäftigt sich das Buch „Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“von Unstatistik-Autor Prof. Dr. Gerd Gigerenzer.

Bei Weiterverbreitung von Texten aus der Reihe "Unstatistik des Monats" muss klar erkennbar sein, dass es sich um die Übernahme eines fremden Textes handelt. Zudem ist die Quelle https://www.unstatistik.de zu nennen. Bitte informieren Sie die Pressestelle des RWI über die Verwendung des Textes unter presse@rwi-essen.de. Das Urheberrecht bleibt bestehen.