Zum Hauptinhalt springen

Angebotsorientierte Finanzpolitik als Gebot der Stunde

Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Die deutsche Wirtschaft steckt in einer beklagenswerten Phase aus niedrigem Wachstum und hoher Inflation. Wie tief die für dieses Winterhalbjahr erwartete Rezession ausfallen wird, ist ungewiss. Die vorliegenden Prognosen legen überwiegend eine moderate Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für 2023 nahe. Allerdings ist die wirtschaftliche Dynamik in Deutschland schon länger erlahmt. Die Wirtschaftsleistung lag zuletzt gerade einmal auf dem Wert vor der Corona-Krise. Die Industrieproduktion befand sich sogar fast 10 Prozent unter dem Niveau von 2017. Im internationalen Vergleich ist Deutschland damit weiter zurückgefallen.

Das muss nicht verwundern: Die Corona-Pandemie hatte nicht nur einen negativen Effekt auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, sondern löste auch einen Einbruch des Angebots aus. Die geld- und fiskalpolitische Stützung der Nachfrage allein konnte keine nachhaltige wirtschaftliche Erholung herbeiführen. Denn das gesamtwirtschaftliche Angebot zog nicht nach – unter anderem wegen Lieferkettenschwierigkeiten und Rohstoffknappheiten. In der Folge erhöhte sich die Inflation im Euroraum schon 2021 erheblich. Weltweit hat sich die Inflation infolge der Corona-Krise verschärft. Überhitzungstendenzen spielen eine wesentliche Rolle, weil die – nicht zuletzt durch staatliche Maßnahmen stabilisierte – Nachfrage das durch Störungen gedämpfte Angebot übersteigt. Hierzu haben die expansive Fiskalpolitik und eine expansive Geldpolitik, die mit Staatsanleihekäufen für günstige Finanzierungskonditionen an den Kapitalmärkten sorgte, zu einem großen Teil beigetragen.

Zu alldem kam im Februar 2022 der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und damit eine Energiekrise hinzu, die als Brandbeschleuniger für die Inflation fungierte und die Angebotsseite der deutschen Volkswirtschaft besonders stark traf. Dies mündete in einer so hohen Inflation, wie sie viele Mitgliedstaaten des Euroraums zuletzt in den 1970er-Jahren erlebten. Aber selbst der damals als traumatisierend empfundene Ölpreisschock hatte hierzulande aufgrund des beherzten Eingreifens der Bundesbank nie zu zweistelligen Preissteigerungsraten geführt. Präsident Putins Angriffskrieg hat die Inflation also angefacht, aber die Grundlage wurde schon zuvor gelegt.

Die krisenhaften Zuspitzungen treffen die deutsche Wirtschaft in einem grundlegenden Strukturwandel. So ist allenthalben von Transformation der Wirtschaft zur Klimaneutralität die Rede. Doch nicht nur die Erfordernisse des Klimaschutzes treiben die Unternehmen um. Zugleich droht sich der Arbeitskräftemangel in Teilarbeitsmärkten im Zuge des unaufhaltsamen demographischen Wandels auszuweiten und zu verschärfen. Zudem erzwingt die Digitalisierung Restrukturierungen, und die geostrategischen Herausforderungen erfordern eine stärkere Diversifikation. Beides wird nicht ohne höhere Kosten für Unternehmen zu haben sein.

Diese stagflationäre Konstellation – schwaches Wachstum bei hoher Inflation im Strukturwandel – erinnert bei allen Unterschieden stark an die Siebzigerjahre. Trotz der raschen und richtigen geldpolitischen Reaktion der Bundesbank reagierte die deutsche Wirtschaftspolitik damals in anderer Hinsicht verspätet und schaffte es nicht, hohe strukturelle Arbeitslosigkeit zu verhindern. Hohe Arbeitslosigkeit scheint heute zwar in weiter Ferne, allerdings mussten die Beschäftigten noch nie so viele Menschen im Ruhestand versorgen. Es verbietet sich allein schon deswegen, leichtfertig auf eine Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Leistung zu verzichten.

Was sollte die Wirtschaftspolitik tun? Die mittlerweile umfangreiche Forschung zur Stagflation der Siebzigerjahre hält viele Einsichten für die heutige Wirtschafts- und Finanzpolitik bereit. An allererster Stelle steht die entschiedene Bekämpfung der Inflation. Die Notenbanken, nicht zuletzt die Europäische Zentralbank (EZB), müssen mit einer deutlich restriktiveren Geldpolitik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage senken und dafür sorgen, dass die Inflationserwartungen zügig wieder auf ein Niveau sinken, das mit dem Ziel der Preisstabilität in Einklang steht. Auf diese Weise kann die Geldpolitik den unmittelbaren Inflationsdruck ebenso mindern wie das Ausmaß an Zweitrundeneffekten, die sich über Lohnerhöhungen und darauffolgende weitere Preissteigerungen ergeben könnten.

Die restriktiver gestaltete Geldpolitik darf sich nicht davon aufhalten lassen, dass sie zu einer schärferen Rezession beitragen könnte: Würde eine Nachbesserung erforderlich, weil die Rücknahme des Expansionsgrads zu zögerlich angegangen wurde, müsste diese umso stärker ausfallen. Gegebenenfalls muss die Geldpolitik darauf zielen, positive Realzinsen zu erreichen, jedenfalls aber bei aller Behutsamkeit so lange fortfahren, bis ein nachhaltiger Inflationsrückgang (auch der Kernrate ohne Energie und Nahrungsmittelpreise) zu ihrem Inflationsziel deutlich zu erkennen ist.

Die Fiskalpolitik steht in dieser Lage vor einer heiklen Gratwanderung. Sie darf nicht expansiv und nachfrageorientiert sein, weil sie dadurch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage über dem Angebot hält und somit inflationstreibend wirkt. Die Annahme, der Staat könne die Bürger für den mit der Inflation verbundenen Wohlstandsverlust vollständig entschädigen, ist verfehlt. Finanzpolitische Maßnahmen können nur punktuell dort für Entlastungen sorgen, wo bestimmte Teile der Bevölkerung die starken Preissteigerungen, zum Beispiel der Energie, nicht verkraften. Darüber hinaus wird eine vernünftige Finanzpolitik angebotsorientiert sein, also darauf abzielen, das gesamtwirtschaftliche Angebot an Produkten und Dienstleistungen zu erhöhen. Nicht vernünftig wäre es hingegen, das aktuell schon gestörte Angebot weiter zu schmälern.

Das Gebot einer angebotsorientierten Ausrichtung gilt überdies für die Wirtschaftspolitik insgesamt, vor allem für die Energiepolitik: In Zeiten sich stark verknappender Energie und damit verbundenen Preissteigerungen eine verfügbare Energiequelle aufzugeben, ohne dies sachlich begründen zu können, kann nur falsch sein. Es geht um mehr als die ernst zu nehmenden Befindlichkeiten eines Ausschnitts der Gesellschaft; der Verzicht auf bezahlbare Energie trifft andere Teile der Gesellschaft ins Mark. Es ist daher dringend erforderlich, sich ideologiefrei mit der Atomenergie und dem Fracking (der unkonventionellen Förderung von Gas) als Brückentechnologien auf dem Weg zur Klimaneutralität auseinanderzusetzen, um zeitnah ein neues energiepolitisches Konzept vorzulegen und zu verwirklichen.

Die deutsche Wirtschaft lebt von der Einbindung in internationale Wertschöpfungsketten. Die Handelspolitik muss daher auf neue Abkommen zielen. Nach der jüngsten Ratifikation von CETA, dem EU-Freihandelsabkommen mit Kanada, wäre es sinnvoll, das schon ausverhandelte Abkommen mit den lateinamerikanischen Mercosur-Staaten in Kraft zu setzen. Darüber hinaus braucht der Standort Deutschland eine kritische Bestandsaufnahme investitionshemmender gesetzlicher Vorgaben. Genehmigungsverfahren lassen sich nur beschleunigen, wenn hemmende Vorschriften der verschiedenen Regulierungsfelder abgebaut werden.

Der Finanzpolitik kommt angebotspolitisch jedoch eine Schlüsselrolle zu. Ihr kann es am ehesten gelingen, den durch steigende Energiepreise verschärften Wettbewerbsnachteil für den Standort Deutschland zumindest zum Teil auszugleichen. Die Finanzpolitik muss dafür sorgen, dass es sich lohnt, in Deutschland zu arbeiten, zu investieren und Risiken zu übernehmen. Hier ist zuallererst die Steuerpolitik gefragt. In Deutschland sind Arbeitseinkommen nach den Angaben der Industrieländerorganisation OECD im Durchschnitt mit am höchsten durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge belastet – zusammen mit Belgien und Österreich.

Auch was die Belastung mit Unternehmensteuern angeht, befindet sich Deutschland in der Spitzengruppe der OECD-Staaten. Das gilt sowohl für die tariflichen Steuersätze der für Kapitalgesellschaften geltenden Körperschaft- und Gewerbesteuern als auch für Personengesellschaften, die der Einkommensteuer unterliegen. Es gilt zudem für die effektiven Durchschnittssteuersätze, denen sich Unternehmen bei ihren Standortentscheidungen gegenüber sehen. Diese sind nicht nur ausschlaggebend für neue Produktionsstätten auf der grünen Wiese, sondern auch für die Wahl des Landes, in dem Erweiterungsinvestitionen stattfinden.

Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung schließt Steuersenkungen aus, bietet aber die Möglichkeit, steuerliche Belastungen durch geänderte Bemessungsgrundlagen zu senken. Obwohl Steuererhöhungen im Koalitionsvertrag ebenfalls ausgeschlossen sind, reißen die Diskussionen darüber nicht ab. Dabei ist der Einfallsreichtum der Steuererhöhungsphantasien bemerkenswert. Manche stellen den fiskalischen Zweck in den Vordergrund und fordern Steuererhöhungen, um die merklich gestiegene Staatsverschuldung zukünftig zu finanzieren.

Diese Argumentation ist fehlgeleitet: Die Staatsschuldenquote liegt seit 2020 knapp unter 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und wird auch 2023 voraussichtlich kaum darüber hinaus steigen. Die Staatsverschuldung ist damit deutlich niedriger, als sie 2010 mit gut 82 Prozent war. Die Konsolidierung um 20 Prozentpunkte bis zum Vorabend der Corona-Krise war ohne Steuererhöhungen möglich. Dies dürfte sich bei einer nun niedrigeren Staatsschuldenquote ebenfalls erreichen lassen.

Als weiteres Argument wird die Sorge um die inflationäre Wirkung der Fiskalpolitik vorgebracht. Die in diesem Jahr verabschiedeten Sondervermögen (Schulden in Nebenhaushalten) könnten zusammen mit der durch die Regelgrenze der Schuldenbremse erlaubten Neuverschuldung zu einem Anstieg des Finanzierungsdefizits im Vergleich zum Jahr 2022 beitragen. Es trifft zwar zu, dass die wohl zu großzügig angelegten Kompensationen für private Haushalte und die Industrie durch die Gas- und Stromrechnungsbremse, finanziert durch den 200 Milliarden Euro starken, wieder belebten Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF), einen zusätzlichen Fiskalimpuls liefern werden. Das Finanzierungsdefizit könnte die im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegte Grenze von 3 Prozent übersteigen.

Doch zum einen wird der im Haushaltsvollzug zustande kommende Fiskalimpuls von den tatsächlich zu zahlenden Hilfen aufgrund höherer Gas- und Strompreise abhängig sein. Sollte sich die Lage auf den Energiemärkten entspannen, wird der Bund weniger ausgeben müssen. Zum anderen lässt sich das Ausgabenwachstum in den Kernhaushalten von Bund, Ländern und Gemeinden durch eine Rückkehr zu den Regelgrenzen ihrer Schuldenbremsen unter Kontrolle halten und so der inflationäre Impuls der Fiskalpolitik beschränken. Nach rund zehn Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Finanzkrise und der massiven finanzpolitischen Expansion im Zuge der Corona-Krise lässt sich kaum überzeugend darlegen, dass keine Konsolidierungsmöglichkeiten auf der Ausgabenseite bestehen. Dies gilt für alle Ressorts und erfordert es, die richtigen Prioritäten zu setzen.

Eine Erhöhung der Steuersätze ist schlecht geeignet, den inflationären Impuls der Finanzpolitik einzudämmen. Sie kann sogar das Gegenteil bewirken. Zwar senken höhere Steuersätze das verfügbare zukünftige Einkommen und damit die Nachfrage, sie verringern jedoch ebenso das gesamtwirtschaftliche Angebot aufgrund der davon ausgehenden negativen Leistungs- und Investitionsanreize. Die Wirkung auf die Inflation hängt davon ab, welcher Effekt größer ist. Schlimmstenfalls wird die Inflation also noch weiter angeheizt. Jedenfalls wäre die Steuererhöhung vor dem Hintergrund der nötigen Stärkung des gesamtwirtschaftlichen Angebots schädlich.

Eine strenge Befristung von Steuererhöhungen, wie sie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Wirtschaftsweise“) ins Spiel brachte, ist nicht zeitkonsistent und damit unglaubwürdig. Selten sind Steuererhöhungen oder neu eingeführte Steuern trotz der guten Vorsätze befristet geblieben. Dies zeigt nicht zuletzt der Solidaritätszuschlag, der zu Beginn zeitlich befristet eingeführt wurde und nun als neue Reichensteuer verdauert ist, solange er sich nicht als verfassungswidrig herausstellt. Noch weniger überzeugend erscheint die Forderung, den Solidaritätszuschlag, dessen Befristung schon unglaubwürdig war, temporär zu erhöhen. Eine solche Erhöhung würde zu Recht von niemandem als vorübergehend angesehen.

Die umfangreichen Entlastungspakete der Bundesregierung stehen wegen ihrer Höhe und mangelnden Zielgenauigkeit in der Kritik. In der Tat werden nicht nur Transferempfänger, sondern auch Personen mit höheren Einkommen begünstigt. Dies gilt vor allem für die Gas- und Stromrechnungsbremsen, trotz der Auflage, die Zahlungen in der Steuererklärung anzugeben. Die hier fehlende Zielgenauigkeit ist beklagenswert; sie ist auf fehlende administrative Fähigkeiten des Staates zurückzuführen, die sich schon zuvor zeigten.

So wird die Kompensation für höhere Energiepreise über die Versorger abgewickelt, die keinerlei Informationen darüber haben, ob die Empfänger bedürftig sind. Eine solche Zielgenauigkeit wird selbst dann nicht erreicht, wenn die im Jahressteuergesetz 2022 nun in Angriff genommene Verbindung von Steuer-Identifikationsnummern und Kontoinformationen besteht. Dies erlaubt lediglich eine pauschale Entlastung pro Kopf, Informationen über die Einkommen der Empfänger liegen weiterhin nicht vor. Anstelle pauschaler Hilfen für alle Gaskunden wäre eine Zahlung auf Antrag, geknüpft an bestimmte Bedingungen, eine Möglichkeit gewesen. Sie wäre allerdings mit Verzögerungen und höherem Verwaltungsaufwand verbunden gewesen.

Die fehlende Zielgenauigkeit der Hilfen durch höhere Steuern kompensieren zu wollen, etwa um eine Verteilungsschieflage zu korrigieren, kann dennoch kein ernst zu nehmender Lösungsvorschlag sein. Weil der Staat Geld an alle Gaskunden direkt und ohne Antrag auszahlen will und auf Zielgenauigkeit verzichtet, sollen die Steuerzahler noch höhere Steuern zahlen? Ein solcher Schritt hätte das Potential, die Politikverdrossenheit weiter anzufachen.

Ähnliches gilt für die aktuell sehr starke kalte Progression. Glücklicherweise korrigieren Bund und Länder die Inflationseffekte im Einkommensteuertarif weitgehend. Nur die sogenannte Reichensteuer in der obersten Proportionalzone bleibt ausgenommen. Doch bei 7 bis 8 Prozent Inflation und entsprechenden Lohnerhöhungen sorgt diese Korrektur lediglich dafür, dass vorerst keine Mehrbelastungen durch die Einkommensteuer zustande kommen. Folgte die Bundesregierung dem Vorschlag des Sachverständigenrats, den Ausgleich der kalten Progression zu verschieben, wäre dies eine Steuererhöhung, die ungünstige Angebotseffekte nach sich ziehen würde.

Ein wichtiger nächster Schritt in der Steuerpolitik kann die Einführung einer Super-Abschreibung plus Investitionsprämie für Investitionen in den Klimaschutz und die Digitalisierung sein. Diese ist im Koalitionsvertrag vereinbart und soll von 2024 an gelten. Dadurch ließe sich die effektive Steuerbelastung senken.

Apropos Investitionen: Die angebotsorientierten Prioritäten sollten auch auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte verwirklicht werden. Staatliche Investitionen in die Infrastruktur – Energie, Verkehr, Digitalisierung sowie Ausgaben für Grundlagenforschung und Bildung – sind eine wesentliche Vorleistung für die jetzt dringender denn je benötigte private Investitionstätigkeit. Subventionen für Altindustrien im Kleid einer Transformation zur Klimaneutralität sind angebotspolitisch nicht prioritär.