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"War die Ära Merkel eine gute Zeit für die deutsche Wirtschaft, Herr Schmidt?"

Christoph Schmidt war in Angela Merkels Regierungszeit Chef der Wirtschaftsweisen und einer ihrer wichtigsten ökonomischen Berater. Die Kanzlerin habe Krisen gut gemanagt, urteilt er. Zugleich sei »vieles liegen geblieben«.

SPIEGEL: Herr Professor Schmidt, Sie haben Angela Merkel über zehn Jahre als einer der Wirtschaftsweisen beraten, sieben davon als deren Chef. Sind Sie sicher, dass sie Ihre Studien gelesen hat?

Schmidt: Jedenfalls kannte sie von allen mindestens die zusammenfassenden Kapitel. Und unser Sondergutachten zur Klimapolitik, das vor zwei Jahren erschienen ist, hat sie nach meinem Eindruck von der ersten bis zur letzten Seite durchgearbeitet. Als es im Klimakabinett vorgestellt wurde, hat sie uns Wissenschaftlern geholfen, die Ergebnisse ihren Ministerinnen und Ministern zu erläutern. Da konnte man merken, wie sehr Frau Merkel zugleich in der Wissenschaft und der Politik zu Hause ist und es hervorragend versteht, zwischen beiden Welten zu vermitteln.

SPIEGEL: Die Ökonomen hat sie kritisiert, weil sie das Fiasko der Finanzkrise nicht vorhergesagt haben. Können Sie das nachvollziehen?

Schmidt: Frau Merkel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Wissenschaft Grenzen hat. Viele Wirtschaftswissenschaftler waren bereits vor der Krise frustriert, mit welcher apodiktischen Verve einige Vertreter unserer Zunft zuvor aufgetreten waren. Manche hatten sogar verkündet, dass der Konjunkturzyklus ausgedient habe und es nur noch nach oben gehe. In der Finanzkrise mussten sie dann wieder Demut lernen.

SPIEGEL: Dafür haben Sie der Kanzlerin im Jahresgutachten 2015 eine »rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik« vorgeworfen. War das Tischtuch damit zerschnitten?

Schmidt: Nein. Frau Merkel war meiner Einschätzung nach stets bewusst, dass der Sachverständigenrat nicht zum Lobpreisen, sondern als kritischer Begleiter der Regierungsarbeit berufen ist. Einige ihrer Minister haben sich damals zwar mächtig aufgeregt, aber Frau Merkel blieb jederzeit souverän. Sie hat es sich nie nehmen lassen, das Gutachten persönlich entgegenzunehmen, auch wenn zum Beispiel eine Reise zu einem wichtigen Gipfel anstand und sie leicht aus Termingründen hätte absagen können.

SPIEGEL: War die Ära Merkel eine gute Zeit für die deutsche Wirtschaft?

Schmidt: Als Frau Merkel ins Amt kam, war die Bundesrepublik bereits auf dem Weg, die unrühmliche Position als die große lahmende Volkswirtschaft Europas zu überwinden. Dazu haben neben einem günstigen außenwirtschaftlichen Umfeld und starken Exporten vor allem die Agenda-Reformen ihres Amtsvorgängers Gerhard Schröder beigetragen. In der Folge ist die deutsche Industrie auf einer Erfolgswelle geschwommen, die fast 15 Jahre lang angehalten hat. Trotz Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrise, trotz Atomausstieg und Pandemie.

SPIEGEL: War es Merkels Aufschwung?

Schmidt: Ursächlich sicher nicht. Aber die Kanzlerin hat es in ihrer Regierungszeit bestens verstanden, unterschiedliche Positionen zusammenzubinden, vor allem beim Management großer Krisen. Und sie hat internationale Krisen für Reformen genutzt. Als die Europäische Währungsunion vor dem Bruch stand, ist es ihr zusammen mit Wolfgang Schäuble gelungen, kurzfristiges Krisenmanagement mit der Vereinbarung eines stärker regelbasierten Rahmens für Europa zu verbinden.

SPIEGEL: Viele ihrer Kritiker haben eher von Durchwursteln gesprochen.

Schmidt: Das klingt mir zu negativ. Das Duo Merkel und Schäuble hat dafür gesorgt, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt um einen Fiskalpakt ergänzt wurde. Das entscheidende »Whatever it takes« stammt zwar von Mario Draghi. Aber Angela Merkel hat den Satz politisch unterstützt, auch in Deutschland. Das hat entscheidend dazu beigetragen, die Eurozone vor einem Sturz ins Chaos zu bewahren. Im Ausland war das Bewusstsein für diese Leistungen oft größer als in der Bundesrepublik. Wenn ich damals in Washington, Paris oder London unterwegs war, hat man die Deutschen oft um die Stabilität beneidet, die mit der Kanzlerschaft Merkels verbunden war.

SPIEGEL: Den Atomunfall von Fukushima hat sie zum endgültigen Ausstieg aus der Kernkraft genutzt. War das die richtige Entscheidung? Schmidt: Langfristig hat Kernkraft vermutlich keine Zukunft, wegen des Endlagerproblems und des Restrisikos für einen Nuklearunfall. Zudem ist die Atomenergie ein emotional extrem belastetes Thema. Frau Merkel hat hier einem langfristigen Konsens den Weg gebahnt und die Emotionen aus dem Thema herausgenommen. Allerdings hat die Kanzlerin es versäumt, zu diesem Zeitpunkt auch die richtigen Weichen für die Energiewende zu stellen. Wenn sie schon damals auf einen umfassenden Emissionshandel gedrungen hätte, der nach dem Vorschlag des Sachverständigenrats Wärme und Verkehr mit einbezogen hätte, könnten wir heute viel weiter sein.

Interview von Michael Sauga.