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Leistungsbilanz der Kanzlerin

SPIEGEL: Herr Schmidt, Sie haben Angela Merkel über zehn Jahre lang beraten. Sind Sie sicher, dass sie Ihre Studien gelesen hat?

Schmidt: Jedenfalls kannte sie von allen mindestens die zusammenfassenden Kapitel. Unser Sondergutachten zur Klimapolitik, das vor zwei Jahren erschienen ist, hat sie nach meinem Eindruck von der ersten bis zur letzten Seite durchgearbeitet. Als es im Klimakabinett vorgestellt wurde, hat sie uns Wissenschaftlern geholfen, die Ergebnisse ihren Ministerinnen und Ministern zu erläutern.

SPIEGEL: Im Jahresgutachten 2013 warfen Sie Merkel »rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik« vor. War das Verhältnis danach gestört?

Schmidt: Nein. Angela Merkel war immer bewusst, dass der Sachverständigenrat nicht zum Lobpreisen, sondern als kritischer Begleiter der Regierungsarbeit berufen ist. Einige ihrer Minister haben sich damals mächtig aufgeregt, aber Frau Merkel blieb souverän.

SPIEGEL: War die Ära Merkel eine gute Zeit für die deutsche Wirtschaft?

Schmidt: Als sie ins Amt kam, war die Bundesrepublik schon auf dem Weg, ihre unrühmliche Position als große lahmende Volkswirtschaft Europas zu überwinden. Dazu trugen neben dem günstigen außenwirtschaftlichen Umfeld und starken Exporten vor allem die Agendareformen von Gerhard Schröder bei. In der Folge schwamm die Industrie auf einer Erfolgswelle, die fast 15 Jahre anhielt. Trotz Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrise, Atomausstieg und Pandemie.

SPIEGEL: Wo lagen Merkels Schwächen?

Schmidt: Die Kanzlerin war eine hervorragende Krisenmanagerin, aber sie hat keine überzeugende ordnungspolitische Vision vorgelegt, wie die deutsche Wirtschaft langfristig Stärke und Gewicht erhalten kann. Dadurch ist viel liegen geblieben, wie sich in der Pandemie gezeigt hat. So hat Deutschland ein großes demografisches Problem: Es gibt zu wenige Fachkräfte, die Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme ist gefährdet. Unsere Verwaltung ist nicht zukunftsfähig, und bei der Digitalisierung sind wir nur Mittelmaß.

SPIEGEL: Was bedeutet das für die nächste Regierung? Schmidt: In der Klimapolitik müssen wir vom Formulieren von Zielen zum Handeln kommen. Der Fachkräfteengpass am Arbeitsmarkt wird sich verschärfen. In den nächsten Jahren werden Millionen erfahrene Beschäftigte in den Ruhestand wechseln. Jetzt lautet eine zentrale Frage, wie wir die Produktivität des aktiven Teils der Bevölkerung so steigern können, dass der Wohlstand trotz der zunehmenden Zahl an Rentnerinnen und Rentnern zu halten ist.

SPIEGEL: Haben Sie eine Antwort?

Schmidt: Die steigende Lebenserwartung macht es unvermeidlich, dass wir länger arbeiten. Viele Deutsche werden künftig 85, 90 oder gar 100 Jahre alt. Das ist sehr schön, die zusätzlichen Lebensjahre können sie aber nicht nur im Ruhestand verbringen. Die Regierung Merkel hat stattdessen mit der Rente ab 63 und der Mütterrente die Weichen in die falsche Richtung gestellt. Das ist wahrscheinlich eines der größten Versäumnisse ihrer Amtszeit.