Aufbau eines ökonometrischen Mehrländermodells
Die zunehmende Verflechtung der internationalen Güter-, Finanz- und
Arbeitsmärkte hat weltweit die wechselseitige Abhängigkeit der
Volkswirtschaften erhöht. Insbesondere für Deutschland als offene und
stark außenhandelsorientierte Volkswirtschaft ist die wirtschaftliche
Entwicklung im Ausland von großer Bedeutung. Bei der Prognoseerstellung,
der Analyse von Risikoszenarien und der Beurteilung von
Politikmaßnahmen sind daher Interdependenzen zwischen In- und Ausland
immer stärker zu berücksichtigen.
Ein Instrument, das dies ermöglicht, ist ein ökonometrisches
Mehrländermodell.
Das RWI hat Anfang 2009 mit der Entwicklung eines eigenständigen
Mehrländermodells begonnen. Es verwendet Vierteljahresdaten und ist
daher mit der Periodizität des RWI-Konjunkturmodells für die deutsche
Volkswirtschaft kompatibel. Im Jahr 2010 setzte das RWI eine erste
lauffähige Version seines Mehrländermodells im Rahmen seiner
Konjunkturanalyse ein. Seitdem wurde das Modell kontinuierlich
weiterentwickelt. In der aktuellen Version bildet das
RWI-Mehrländermodell die außenwirtschaftliche Verflechtung von 39
Industrie- und Schwellenländern ab, ergänzt um die Einflüsse des
fiktiven Landes „Rest der Welt“, das die Importe aller
unberücksichtigten Länder auf sich vereint.
Für 22 der 39 betrachteten Länder enthält das Mehrländermodell
ökonometrische Teilmodelle. Diese nationalen Modellblöcke erfassen die
binnenwirtschaftliche Entwicklung der Länder und lassen sich
hinsichtlich ihres Detaillierungsgrades in zwei Gruppen teilen.
Weltwirtschaftlich besonders wichtige Länder werden in vergleichsweise
detaillierten Modellen abgebildet. Dies sind gegenwärtig die sechs
Länder USA, Japan, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien.
Ökonomische Alternativszenarien lassen sich für diese Länder relativ
differenziert in diesen Teilmodellen implementieren, da u.a. der
Staatssektor endogen modelliert ist. Außerdem ermöglicht die höhere
Anzahl von Rückkopplungskanälen eine tiefergehende Darstellung der
Wirkungen von Schocks. Aus technischer Sicht bestehen die Teilmodelle
dieser Länder jeweils aus 65 Gleichungen, von denen 32 stochastisch
sind. Die zentralen Verhaltensgleichungen sind als
Fehlerkorrekturmodelle spezifiziert.
Weitere 16 Industrieländer werden durch kompaktere, stärker stilisierte
Teilmodelle abgebildet. Die Wirtschaftsentwicklung dieser Länder wird
durch jeweils 36 Gleichungen erfasst, von denen 15 stochastisch sind.
Überwiegend erfolgt hier die Spezifizierung durch ADL-Gleichungen, die
mit dem 2SLS-Verfahren geschätzt werden. Neben Südkorea und Kanada
entsprechen die Teilmodelle Deutschlands und 13 weiterer europäischer
Staaten dieser vereinfachten Modellstruktur. An die Stelle des aktuellen
Deutschlandblocks wird in naher Zukunft das deutlich umfangreichere und
langjährig bewährte RWI-Konjunkturmodell treten. Das Projektteam
arbeitet momentan an einer Verknüpfung des Konjunkturmodells mit dem
Mehrländermodell.
Bei den restlichen 17 Modellländern beschränkt sich die Modellierung
derzeit auf Importgleichungen, die die Nachfrage dieser Länder im Rahmen
Handelsmatrix bestimmen Zu dieser Gruppe gehören insbesondere die BRIC-
und OPEC-Staaten. Obwohl eine detailliertere Modellierung zumindest
einiger dieser Länder vor dem Hintergrund ihrer wachsenden
wirtschaftlichen Bedeutung wünschenswert wäre, scheitert diese momentan
häufig an der unzureichenden Datenbasis, die noch keine verlässliche
Abbildung der binnenwirtschaftlichen Zusammenhänge erlaubt.
Diese Teilmodelle unterschiedlicher Größe werden über eine Handelsmatrix
miteinander verknüpft, die den Kern des Mehrländermodells bildet. Im
Unterschied zu den individuellen Länderblöcken, erfolgt die Modellierung
des Warenaustauschs länderübergreifend einheitlich. Aus den nationalen
Teilmodellen wird die gesamte Importnachfrage abgeleitet. Über die
Handelsmatrix werden nun die Importe jedes Landes zu den Exporten der
Partnerländer übergeleitet. Dazu werden die Einfuhren zunächst
einheitlich in US-Dollar umgerechnet. Danach werden die Importe nach
Maßgabe von Handelskoeffizienten in Exporte der Partnerländer
umgerechnet. Diese Koeffizienten geben für jede Länderpaarung an,
welcher Anteil der Gesamtimporte des importierenden Landes durch
Lieferungen der verschiedenen exportierenden Länder bedient wird. Die
Handelskoeffizienten sind zeitvariable modelliert und ändern sich in
Abhängigkeit von Wechselkursen und der relativen Preise. Darüber hinaus
enthalten die Gleichungen autoregressive Einflüsse. Durch Multiplikation
der Gesamtimporte mit den Handelskoeffizienten lassen sich für alle
Länder die bilateralen Exporte kalkulieren und daran anschließend die
Gesamtexporte durch Aggregation berechnen, die dann in die nationalen
Teilmodelle eingehen. Technisch erfordert die Handelsmatrix für jedes
Länderpaar und jede Richtung die Schätzung einer zusätzlichen Gleichung,
wodurch sich die Zahl der stochastischen Modellgleichungen um 1521
erhöht. Die Einhaltung technischer Restriktionen sowie die Kalkulation
und Umrechnung der einzelnen Werte, wird durch rund 3000 weitere
Identitäten innerhalb des Modells sichergestellt.
Insgesamt gewährleistet die simultane Aufteilung der Importe über alle
Länder hinweg, dass die bilateralen Ex-und Importe spiegelbildlich
kalkuliert werden. Der zentrale Vorteil besteht in der Konsistenz. Die
Gesamtexporte des einen Landes ergeben sich als Summe der bilateralen
Importe aller anderen Länder und der Importpreisindex des einen Landes
entspricht einem gewichteten Durchschnitt der Exportpreise seiner
Handelspartner. Die Übertragung konjunktureller Impulse über den
internationalen Güterhandel wird somit länderspezifisch erfasst.
Neben der Modellierung der Handelsströme gewährleisten mehrere
Schnittpunkte innerhalb der Teilmodelle die Berücksichtigung weiterer
Transmissionskanäle. Hierzu zählen insbesondere Zins-, Wechselkurs-
Preiseffekte. Letztlich ermöglicht das RWI-Mehrländermodel durch das
Zusammenspiel aller Transmissionskanäle mit den einzelnen Länderblöcken
eine simultane Modellierung der Wirtschaftsentwicklung in den
Modellländern unter Beachtung der wechselseitigen Abhängigkeiten. Das
Modell ist damit vielseitig für makroökonomische Analysen einsetzbar.
Publications
Project start:
01. July 2009
Project end:
Project management:
Prof. Dr. Torsten Schmidt
Project staff:
Dr. György Barabas,
Roland Döhrn, Svetlana Rujin