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Corona-Mutationen und die Probleme von Prognosen

Die Januar-Unstatistik zeigt anhand der Prognosen im Zusammenhang mit Corona-Mutationen, wie solche Vorhersagen entstehen. Sie erläutert zudem, wie eine Prognose zu Verhaltensänderungen führt und damit selbst dazu beiträgt, dass sie nicht eintrifft.

 

Unstatistik vom 29.01.2021

Im Januar hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer internen Sitzung vor den Gefahren der in Großbritannien aufgetretenen Mutation B.1.1.7 des Corona-Virus gewarnt, unter anderem focus.de zitierte sie mit der Aussage: „Wenn wir es nicht schaffen, dieses britische Virus abzuhalten, dann haben wir bis Ostern eine zehnfache Inzidenz“. Von einigen Kommentatoren wurde dies als starker Tobak abgekanzelt, nicht zuletzt mit Verweis auf vergangene Prognosefehler im Zusammenhang mit der derzeitigen Pandemie. Diese Kritik an fehlerhaften Prognosen verdeutlicht eine durchaus weit verbreitete Unkenntnis der Entstehung, Probleme und Aufgaben von Prognosen, die nachfolgend erläutert werden.

Wie entstand die Prognose unserer Bundeskanzlerin? Hierzu müssen erst einmal einige Annahmen getroffen werden. Verschiedene neuere Studien aus Großbritannien (s. dazu einen Bericht der Staatlichen Agentur „Public Health England“, einen Artikel zur Übertragung der Corona-Mutation B.1.1.7 in England sowie Aussagen von Virologe Christian Drosten auf web.de) legen nahe, dass die Virusmutation B.1.1.7 ungefähr 35 bis 70 Prozent ansteckender ist als die bisher bekannte Form. Darüber hinaus muss man Annahmen über die bisher vorhandenen Infektionen mit der neuen Form des Virus treffen, da es hierzu bisher nur sehr wenige belastbare Daten gibt. Angenommen, der Anteil des mit der neuen Virusmutation derzeit infizierten Anteils der Bevölkerung liegt irgendwo zwischen 0,1 und 1 Prozent. Geht man nun zusätzlich von der Annahme aus, dass die Verbreitung des Virus einem exponentiellen Wachstumsprozess folgt (siehe hierzu unsere Unstatistik vom 25. März 2020) und geht man von dem derzeitigen Reproduktionswert von etwa 1,1 sowie einer 7-Tage-Inzidenz von 164 aus, kommt man in einer optimistischen Variante (die Virusmutation ist ca. 40 Prozent ansteckender und wenige sind bereits mit der Mutation infiziert) bis Ostern auf einen Inzidenzwert von etwa 500 Infektionen je 100.000 Einwohner. In einer pessimistischen Variante (mit der Annahme, dass die Virusmutation sehr viel ansteckender ist und viele bereits mit der neuen Mutation infiziert sind) auf eine 7-Tages Inzidenz von etwa 3500 Infektionen je 100.000 Einwohner. Der Durchschnitt beider Szenarien entspricht in etwa der von Frau Merkel genannten Verzehnfachung der Inzidenz.

Wo liegen die Probleme dieser Prognose? Ein zentrales Problem der obigen Prognose liegt in der mangelhaften Qualität der zugrundeliegenden Daten. Die Corona-Mutation B.1.1.7 wurde erst im November 2020 in Großbritannien entdeckt. Daher liegen bisher auch nur wenige Informationen zum Ausbreitungsprozess dieser Mutation vor. Dies erklärt auch die erhebliche Bandbreite der geschätzten Ansteckungsgefahr der Mutation, die von 35 Prozent bis 70 Prozent ansteckender als die bekannte Version des Virus reichen. Da in Deutschland bisher keine systematische Analyse der Ausbreitung der Virusmutation erfolgt, fehlen zudem belastbare Informationen darüber, wie viele Personen sich bereits mit der neuen Variante angesteckt haben. Diese Information ist jedoch für die Prognose der wahrscheinlichen Inzidenzzahlen zu Ostern zentral. Entsprechend groß ist die Unsicherheit dieser Prognose, die zwischen einer 7-Tages Inzidenz zu Ostern von 500 bis 3500 je 100.000 reicht. 

Die bereits erwähnte Kritik an Prognosefehlern liegt jedoch an einer in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend ignorierten Annahme von Prognosen: Prognosen können nur auf Basis des vorhandenen Wissens erstellt werden. Daher muss man immer annehmen, dass die Zukunft so verläuft wie die Vergangenheit. Darin liegt jedoch gerade eine der zentralen Aufgaben einer Prognose: Man schätzt die zukünftige Entwicklung, wenn alles so bleibt, wie es ist, um auf Basis dieser Prognose Handlungsnotwendigkeiten und -optionen diskutieren zu können. Damit ist aber jedwede Prognose bereits mit ihrer Veröffentlichung notwendigerweise falsch! Denn die Prognose selbst führt zu Verhaltensänderungen, damit unterscheidet sich die Zukunft von der Vergangenheit und die Prognose ist nicht mehr korrekt. Vergangene Prognosen ex-post zu kritisieren ist daher unfair – die Prognose hat mehr oder weniger selbst dazu beigetragen, dass sie nicht stimmt. Nehmen wir das Beispiel der Merkel’schen Prognose zu den Inzidenzzahlen zu Ostern. Wird diese nicht ernstgenommen und die derzeitigen Beschränkungen gelockert, wird es nach jetzigem Kenntnisstand sehr viel schlimmer kommen als vorhergesagt. Verschärft man die derzeitigen Maßnahmen massiv, weil man aufgrund der Prognose extrem besorgt ist, werden die vorhergesagten Inzidenzzahlen bei weitem nicht erreicht.  Wie auch immer – alleine die Diskussion um diese Prognose wird dazu führen, dass sie falsch sein wird.

Ansprechpartner/in:

Prof. Dr. Thomas K. Bauer                           Tel.: (0201) 8149-264
Sabine Weiler (Kommunikation RWI),          Tel.: (0201) 8149-213, sabine.weiler@rwi-essen.de 

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik.

Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist ab dem 31. Januar unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.

 

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