Die „gefährlichsten Straßen Deutschlands“
„DAS sind die gefährlichsten Straßen Deutschlands!“, titelte BILD. Die Frankfurter Rundschau formulierte es so: „Neue Analyse zeigt: Deutschlands gefährlichste Straße liegt in Frankfurt.“ Im November berichteten viele Medien über eine Unfallstatistik von Allianz Direct, die auf den Daten der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), des Statistischen Bundesamtes und des Deutschen Unfallatlas beruht und nach eigener Aussage zeigen soll, wo das Risiko für Verkehrsunfälle am höchsten sei. Heraus kommen wenig überraschende, aber auch kaum entscheidungsrelevante Schlüsse: In bevölkerungsreichen Bundesländern gebe es mehr Unfälle und die häufigste Unfallursache seien „Unfälle zwischen Fahrzeugen auf der Fahrbahn“.
Schon dieser letzte Satz zeigt: Wir haben kein Statistik-, sondern ein Logikproblem.
Logikfehler statt Statistikfehler
Die Allianz stuft Nordrhein-Westfalen und Bayern aufgrund ihres „erhöhten Risikos“ als besonders gefährlich ein. Begründung: große Bevölkerung, viele Pendler, hohes Verkehrsaufkommen. Diese Begründung ist so überraschend wie die Erkenntnis, dass in großen Supermärkten mehr Joghurt verkauft wird als in kleinen.
Absolute Zahlen statt echtes Risiko
Was hier als „erhöhtes Risiko“ bezeichnet wird, ist lediglich eine absolute Zahl. Wo mehr Menschen fahren, passieren statistisch gesehen mehr Unfälle. Das macht die Straßen jedoch nicht gefährlicher.
Um Risiken zu vergleichen, sind Bezugsgrößen notwendig, etwa Unfälle pro gefahrenem Kilometer. Idealerweise werden diese noch um die Art der Straßen, das durchschnittlich gefahrene Tempo, vorhandene Baustellen, die Witterung, die Ampeldichte usw. adjustiert.
Nichts davon wird untersucht. Die Daten beschreiben daher somit kein Risiko, sondern lediglich den Verkehrsdurchsatz mit mehr oder weniger großer Präzision. Die Aussage der Allianz Direct, welche Straßen besonders hoch mit Unfallrisiken behaftet seien, ist daher wenig sinnvoll: „Ein genauer Blick auf die Straßen mit den meisten Unfällen zeigt, dass einige besonders gefährdet sind.“ Straßen können nicht „gefährdet“ sein – und sie sind auch nicht gefährlich. Gefährlich ist das Verhalten der Verkehrsteilnehmer.
Eine viel befahrene Stadtautobahn produziert zwangsläufig mehr Unfälle als eine kaum befahrene Landstraße. Das macht sie jedoch nicht zwangsläufig zu einer Problemstrecke. Ähnlich wäre es, wenn Krankenhäuser mit den meisten Infektionen als „gefährlich“ eingestuft würden. Tatsächlich haben diese häufig einfach nur viele Patienten. Somit wird ein Mengeneffekt fälschlicherweise als Risikoeffekt fehlinterpretiert.
Unfallkonstellation ist keine Ursache
Weiter heißt es: „Die häufigste Unfallursache variiert je nach Bundesland, wobei jedoch in den meisten Bundesländern Unfälle zwischen Fahrzeugen auf der Fahrbahn am häufigsten vorkommen.“ Das ist keine Ursache, sondern eine Unfallkonstellation. Mit derselben Logik könnte man sagen: „Die häufigste Krankheitsursache beim Menschen ist: Krankheit.“
Eine Ursache erklärt, warum etwas passiert – nicht, mit wem oder wo. Mögliche Ursachen sind zum Beispiel eine zu hohe Geschwindigkeit, eine missachtete Vorfahrt, Alkohol am Steuer, Übermüdung, technische Defekte oder schlicht Ablenkung. Die Allianz Direct hat zwar Daten über die Unfallursachen ausgewertet, aber nicht nach Bundesländern differenziert. Dies macht sie nur für die Unfallkonstellationen, die sie jedoch als Unfallursachen bezeichnet.
Das Ranking der Bundesländer mit den angeblich schwersten Verkehrsunfällen in Deutschland ist besonders irreführend. Zwar führt Nordrhein-Westfalen die Liste in absoluten Zahlen deutlich an. Betrachtet man allerdings den Anteil von Unfällen mit Schwerverletzten und Toten an allen Unfällen, so liegt das bevölkerungsreichste Bundesland mit 8,6 Prozent nur auf Platz 6, während Thüringen mit 13 Prozent an erster Stelle steht. Es folgen Sachsen (10,1 %), Sachsen-Anhalt (9,1 %), das Saarland (9,0 %) und Hessen (8,6 %).
Was die Daten wirklich zeigen
Was die Statistik tatsächlich zeigt: Wo viele Autos fahren, passieren viele Unfälle. Die vermeintlichen Erkenntnisse sind nichts anderes als eine Beschreibung des Verkehrsaufkommens. Für alles Weitere fehlen die Daten. Medien greifen solche Rankings dankbar auf, weil sie sich gut klicken lassen. Aber sie erzeugen eine Scheinpräzision, die es nicht gibt. Sie vermitteln den Eindruck, bestimmte Bundesländer seien voller Verkehrsrowdys und auf bestimmten Straßen oder in der Umgebung bestimmter Orte drohe ein besonderes Unfallrisiko.
Nichts davon ist durch die Daten gedeckt. Damit werden aus simplen Häufigkeiten vermeintliche Risikoeinschätzungen – ein klassischer Fall für die „Unstatistik des Monats“.
Ihr/e Ansprechpartner/in dazu:
Dr. Katharina Schüller, katharina.schueller@stat-up.com
Alexander Bartel (Kommunikation), Tel.: (0201) 8149-354, alexander.bartel@rwi-essen.de
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unterwww.data-literacy-charta.deabrufbar.
Zuletzt erschienen: „Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich – Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“, das zweite Unstatistik-Buch (ISBN 9783593516080), erhältlich im Buchhandel zum Preis von 22 Euro.
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