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2006

Pandemie - Risiko mit großer Wirkung

Ein Report der Allianz und des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung

In der chinesischen Provinz Guangdong beginnt 1996 vielleicht die Geschichte einer neuen Pandemie. Eine Gans hat sich damals mit dem Influenza-Virus A/H5N1 infiziert. Von China aus bahnt sich das Virus seinen Weg über Hongkong nach Asien, über Afrika bis nach Europa. Und mit ihm verbreitet sich die Furcht vor einer neuen Seuche. Was, wenn H5N1 der Erreger ist, der eine Pandemie unter Menschen auslöst? Seitdem das Virus auch Schwäne auf der Ostseeinsel Rügen heimsuchte, beschäftigen sich längst nicht mehr nur Wissenschaftler mit der Vogelgrippe. Staaten legen Vorräte mit antiviralen Medikamenten an; nationale Krisenstäbe planen, wie sich das öffentliche Leben aufrecht erhalten lässt; Forscher arbeiten fieberhaft an der Entwicklung eines Pandemie-Impfstoffs. Unternehmen erstellen Notfallpläne und Menschen überlegen, wie sie sich selbst schützen können. „Die Frage ist dabei nicht, ob eine Pandemie kommt, sondern wann sie kommt“, sagt Prof. Reinhard Kurth, Präsident des Robert-Koch-Instituts. Es geht also nicht darum, die Seuche abzuwenden, sondern möglichst schnell auf sie reagieren zu können. Dazu sollte die Gesellschaft übermedizinische Hintergründe und mögliche Folgen aufgeklärt sein. Nur wer informiert ist, kann sich vorbereiten. Dieser Report will einen Beitrag zur Aufklärung und Information leisten. Deshalb haben die Allianz und das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI Essen) die wichtigsten Fakten zum Thema Pandemie zusammengetragen und allgemein verständlich aufbereitet. Im medizinischen Teil wird dargestellt, ob sich die Vogelgrippe tatsächlich zu einer neuen Pandemie auswachsen könnte. Schließlich erkrankten bis heute 224 Menschen am A/H5N1-Erreger, 127 starben daran (Stand 29. Mai 2006). Zudem erfüllt das Virus bereits zwei der drei Voraussetzungen für den Ausbruch einer Pandemie. Allein die Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch ist bislang nicht in relevanter Weise gegeben. Auch wenn Vorbilder aus jüngerer Zeitfehlen, lassen die Infektions-, Morbiditäts- und Mortalitätsraten der Pandemien des 20. Jahrhunderts Rückschlüsse auf den möglichen Verlauf einer Pandemie im 21. Jahrhundert zu. Ein genauer Blick auf die genetische Struktur der Influenza-Viren und die Entstehung neuer Viren schafft Klarheit darüber, warum harmlose Grippeerreger sprunghaft zu sehr gefährlichen Varianten mutieren können. Verständlich ist deshalb die Besorgnis, die die Verbreitung des Vogelgrippe-Virus hervorruft. Anzahl und Ausmaß der Seuchenausbrüche haben in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Wann sich jedoch das Virus auch von Mensch zu Mensch vermehrt, weiß keiner, auch kein Wissenschaftler. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ein Modell zur Risikoeinschätzung entwickelt, das eine Pandemie in sechs Phasen aufteilt. Wir befinden uns in Phase III, dem Beginn der Alarmphase. Die therapeutischen Möglichkeiten zur Behandlung einer Pandemie sind begrenzt. Antivirale Medikamente wie Oseltamivir, das unter dem Markennamen Tamiflu angeboten wird, und Zanamivir, das unter dem Markennamen Relenza vertrieben wird, sind die einzigen medizinischen Interventionsmöglichkeiten zu Beginn der Krankheit. Impfen wäre der beste Schutz, wenn denn ausreichende Kapazitäten zur Verfügung stünden und schnell ein Impfstoff entwickelt würde. Derzeit könnten die Pharmaunternehmen Impfstoff für maximal sieben Prozent der Weltbevölkerung bereitstellen. Nicht nur Medikamente sind knapp, auch die Betten in deutschen Krankenhäusern dürften nicht ausreichen. Die Gesundheitsreform aus dem Jahr 2004 führt dazu, dass in den kommenden Jahren etwa 135000 Krankenhausbetten bundesweit wegfallen. Deshalb sind nach Einschätzung des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Reinhard Kurth, in deutschen Krankenhäusern immer weniger Kapazitäten für plötzlich steigenden Versorgungsbedarf verfügbar. Zu diesem Ergebnis kommen auch die Wissenschaftler des RWI Essen und der Unternehmensberatung ADMED: Ihre Analyse hat ergeben, dass in Deutschland zwar genügend Krankenhausbetten zur Verfügung stehen, die Versorgung von Intensivpatienten wäre jedoch gerade in Ballungszentren wie Hamburg oder Berlin kaum zu bewältigen. So müssten sich im Falle einer schweren Pandemie in Berlin vier Patienten ein Intensivbett teilen. Und bei einer Erkrankungsrate von 30 Prozent wären nur in Sachsen-Anhalt genügend Betten vorhanden. Der Ausbruch der Vogelgrippe in Deutschland im Februar 2006 war das Thema der Medien, weit vor dem Streit um die Mohammed-Karikaturen und den Streiks im öffentlichen Dienst. Trotz dramatischer Bilder blieb die deutsche Bevölkerung gelassen. Medienwissenschaftler Hans-Mathias Kepplinger sagt, dass die Medien möglicherweise aus der Erfahrung mit den Seuchen SARS und BSE gelernt haben. Erstmals versuchten die Medien dieses Mal die Balance zwischen Faktenreichem und Dramatischem: Auf der Seite eins spielten die Printmedien das Thema boulevardesk, im Wissensteil bereiteten sie die Fakten ausgewogen auf. Mit einer Übersicht über die Kostenvorhersagen der namhaften Pandemiestudien wendet sich der Report den wirtschaftlichen Aspekten zu. Die Bandbreite der Vorhersagen lässt so ziemlich jede Schlussfolgerung über die wirtschaftlichen Folgen einer neuen Pandemie zu. Eine schwere Rezession ist für die Wirtschaftsinstitute genauso denkbar wie ein statistisch nicht nachweisbarer Produktionsausfall. Die wirtschaftlichen Annahmen fußen auf den epidemiologischen Unsicherheiten und führen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Dennoch gibt es bemerkenswerte Gemeinsamkeiten: So zeigen die Pandemie-Studien in der theoretischen Analyse der Ursachen und Auswirkungen auffällige Parallelen. Erklärungsmuster wie Angebot und Nachfrage sowie kurz-, mittel- und langfristige Effekte beschreiben die den Szenarien zugrunde liegende Struktur treffend. Ob die Ursachen für den wirtschaftlichen Schaden eher auf der Nachfrage- oder Angebotsseite entstehen, hängt wiederum von der Bewertung der psychologischen Effekte und der Arbeitsleistung ab. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung hat in der Zusammenarbeit mit der ADMED GmbH berechnet, dass das Bruttoinlandsprodukt im Fall einer milden Pandemie um ein Prozent und bei einer schweren Pandemie um 3,6 Prozent schrumpfen würde. Durch den Ausfall an Arbeitsstunden haben die Wissenschaftler im milden Szenario einen Angebotseffekt von –0,7 Prozent, im schweren Szenario von –2,4 Prozent ermittelt. Hinzu kommt ein Nachfrageausfall von –0,3 Prozent beziehungsweise von –1,2 Prozent. Außerdem wurde versucht, den volkswirtschaftlichen Nutzen der wichtigsten Notfallmaßnahmen im Pandemiefall zu berechnen. In einem ersten Schritt haben die Wissenschaftler die Kosten der Notfallplanung beziffert. Da sich die Auswirkungen der einzelnen Maßnahmen auf die Erkrankungsrate und die Krankheitsdauer nicht zuverlässig ermitteln lassen, haben sie ermittelt, wie effektiv jede dieser Maßnahmen mindestens sein muss, um die Kosten wieder auszugleichen. In einem zweiten Schritt haben sie untersucht, wie sich die Maßnahmen insgesamt auf das Bruttoinlandsprodukt auswirken, etwa die Impfung gegen ein Virus. Im Rahmen dieser Analyse unterscheiden die Wissenschaftler die folgenden vier Notfallmaßnahmen: die Bereitstellung von Mundschutzen für die Bevölkerung, die Impfung gegen ein Virus, das eine Pandemie auslösen könnte, die Versorgung der Patienten mit antiviralen Medikamenten und eine Aufstockung der Kapazitäten von Intensivbetten. Vor allem durch eine landesweite Impfung würde sich die Erkrankungsrate reduzieren, durch den Einsatz antiviraler Medikamente und eine Aufstockung der Intensivbetten die Krankheitsdauer verringern. Insgesamt haben diese Maßnahmen also positive Auswirkungen auf das Arbeitsangebot und damit auch auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Im milden Szenario beziffern das RWI Essen und die ADMED den Angebotseffekt auf 0,3 Prozent, den Nachfrageeffekt auf 0,1 Prozent. Im Fall einer schweren Pandemie belaufen sich der Angebotseffekt auf ein Prozent und der Nachfrageeffekt auf 0,4 Prozent. Gesamtwirtschaftlich bringt die Notfallplanung je nach Szenario also zwischen 0,4 und 1,4 Prozent. Die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung reduzieren sich dadurch also auf –0,7 Prozent im milden und auf –2,2 Prozent im schweren Szenario. Gunnar Miller, Analyst des Deutschen Investment Trusts (dit), verbindet die volkswirtschaftliche Theorie mit der betriebswirtschaftlichen Praxis und einer Analyse über die möglichen Auswirkungen einer Pandemie auf den Kapitalmarkt. Im Mittelpunkt steht dabei stets die Unterteilung in Gewinner und Verlierer. Falls es zum Ausbruch einer Pandemie kommen sollte, werden die Börsen die Ersten sein, die entscheiden, wer zu welcher Kategorie gehört. Insgesamt überwiegen die Verlierer: Je nach unterstelltem Szenario könnten die Aktienmärkte nach Schätzung der Allianz zwischen 4,3 und 16,7 Prozent verlieren. Was es heißt, schon heute zu den Verlierern der Vogelgrippe zu gehören, zeigt die Analyse der Geflügelwirtschaft und der Tourismusindustrie. Im Falle einer Pandemie wären weitere Branchen wie das Transportwesen, der Einzelhandel oder die Luxusgüterindustrie betroffen. Profitieren würden Hygienemittelhersteller, Anbieter von Unterhaltungselektronik und Informationstechnologie. Ein Gewinner steht bereits heute fest: Die Pharmaindustrie, vor allem die Hersteller antiviraler Medikamente und Grippe-Impfstoffe. Die Versicherungsbranche pauschal zu verurteilen, wenn es darum geht, die Verlierer einer Pandemie zu benennen, wäre vorschnell. Schließlich ist das Geschäft weitaus komplexer als das eines Geflügelzüchters, denn das Versicherungsgeschäft umfasst neben Leben- auch Sach- und Kreditversicherungsgeschäft. Zum anderen ist eine Pandemie versicherungstechnisch betrachtet kein außergewöhnliches Ereignis. Sie reiht sich ein in Katastrophen wie Erdbeben und Wirbelstürme. Der wesentliche Unterschied im vorliegenden Fall ist der, dass es keine valide Zahl, keine seriöse Annahme gibt, wann und mit welcher Heftigkeit uns demnächst ein Virus tatsächlich bedroht. Versicherungsmathematiker bedienen sich der Daten aus der Zeit der Spanischen, Asiatischen und der Hongkong-Grippe sowie der Lungenkrankheit SARS, damit sie verschiedene Szenarien berechnen können, um die möglichen Belastungen für das Unternehmen abzuschätzen. Unter dem Strich bleibt ein Risiko, das aber, selbst im schlimmsten anzunehmenden Fall einer weltweiten Pandemie, von der Allianz verkraftet werden kann. Sollte es statt einer zweiten Spanischen Grippe indes zu einer milderen Pandemie, zu vergleichen mit der Asiatischen Grippe oder der Hongkong-Grippe kommen, so würde dieses Szenario etwa innerhalb der Allianz keine allzu gravierenden Verluste verursachen.

Allianz Deutschland AG

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