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2009

Leben mit der Pandemie

Ein Report der Allianz und des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung

Ein neues Influenza-Virus hat sich seit dem Frühjahr mit rasanter Geschwindigkeit über den Globus ausgebreitet. Weltweit haben sich in sechs Monaten über 340.000 Menschen mit dem Schweinegrippe-Erreger infiziert. Mit bis zu zwei Milliarden Infizierten rechnet die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Deshalb hat sie schon im Juni die höchste Warnstufe ausgerufen, obwohl der vom Schwein stammende Erreger H1N1 bislang die schlimmsten Befürchtungen nicht erfüllt hat. Wie gefährlich diese Pandemie ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Schwere Fälle blieben in Deutschland bislang die Ausnahme. Bis Anfang Oktober hat das Robert Koch-Institut (RKI) über 22.000 Fälle registriert, eine 36-jährige Frau und ein 5-jähriger Junge sind an den Folgen des Virus gestorben. Die meisten Patienten leiden lediglich vier bis fünf Tage unter Fieber, Hustenreiz, vielleicht Durchfall. Gerade hierzulande fürchtet sich deshalb kaum einer vor dieser Pandemie, zu sehr steckt noch in den Köpfen, dass auch BSE, SARS und die Vogelgrippe nur falschen Alarm ausgelöst hätten. So registrierte das RKI nach Ende der Sommerferien insgesamt weniger neue Fälle. „Dafür zirkuliert das Virus stärker in Deutschland. Die Quote der Menschen, die sich im Land infiziert haben, hat sich in den vergangenen Wochen von 20 auf 50 Prozent mehr als verdoppelt“, sagt RKI-Präsident Jörg Hacker. Einig sind sich die Virologen darin, dass es eine zweite, gefährlichere Ausbreitungswelle der Schweinegrippe geben könnte. Die Frage wird dabei sein, ob sich das Virus verändert. Verbündet sich der Schweinegrippeerreger mit dem der saisonalen Influenza – oder gar mit dem Erreger der Vogelgrippe? „Die Gefahr ist nach wie vor die Mutation“, sagt die WHO-Vorsitzende Margaret Chan. Die frühzeitige Impfung der Bevölkerung gehört neben hygienischen Maßnahmen und der antiviralen Therapie zu den wichtigsten Maßnahmen für die Prävention und Bekämpfung der Influenza. Allerdings ist in den vergangenen Wochen immer wieder die Frage gestellt worden: Warum impfen, wenn das Virus doch so harmlos ist? So gaben in einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ im September nur 13 Prozent der Befragten an, sich gegen H1N1 immunisieren zu lassen. Anders als Frankreich, Großbritannien, die USA, die Niederlande oder die Schweiz, deren Pläne die Impfung der gesamten Bevölkerung vorsehen, haben die Bundesländer und das Gesundheitsministerium beschlossen, in Deutschland zunächst höchstens ein Drittel der Bevölkerung zu impfen. Allerdings haben die Länder Vorverträge mit der britischen GSK-Gruppe und dem Schweizer Konzern Novartis Behring, um im Ernstfall bis zu 80 Prozent der Bevölkerung impfen zu können. Abgerufen wurden davon bislang 50 Millionen Dosen des Wirkstoffs Pandemrix von der GSK. Sowohl für Pandemrix als auch für das Novartis-Serum Focetria hat der Ausschuss für Humanarzneimittel CHMP Ende September eine Zulassungsempfehlung ausgesprochen, die Zulassungen durch die Europäische Kommission erfolgte nur wenige Tage später, so dass Ende Oktober die ersten Dosen an die Gesundheitsämter verteilt werden können. Noch steht allerdings nicht fest, ob eine oder zwei Dosen für eine robuste Immunisierung genügen. „Die Daten der ersten Studien sprechen dafür, dass eine Dosis ausreichen könnte“, sagt Johannes Löwer, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts. Eine Entscheidung wird aber erst in einigen Wochen nach zusätzlichen Tests getroffen. Zumindest ältere Menschen sollten nach jetzigen Erkenntnissen zwei Mal geimpft werden. Neben der Impfstoffproduktion und der Bevorratung antiviraler Medikamente sieht der nationale Pandemieplan vor, dass jedes Bundesland und jeder Stadt- oder Landkreis seine Notfallplanung überprüfen soll, auch Krankenhäuser sollen auf den Ernstfall vorbereitet sein. Das RWI und die Unternehmensberatung ADMED GmbH schätzen allerdings, dass es schon ab einer Erkrankungsrate von 15 Prozent zu deutlichen Engpässen bei der Versorgung von Intensivpatienten, insbesondere bei den Beatmungsplätzen, kommen würde. So rechnen die Wissenschaftler bei einem milden Verlauf mit über 45.000 fehlenden Intensivbetten. Bei einer Erkrankungsrate von 50 Prozent würden der Rechnung zufolge sogar 180.000 Intensivbetten und Beatmungsplätze fehlen. In diesem Szenario würde auch die Zahl der Krankenhausbetten nicht ausreichen. Auch die Unternehmen sind nicht ausreichend auf den Ernstfall vorbereitet. Bislang kann nur jeder zweite Betrieb auf einen Pandemieplan zurückgreifen, meldete Ende April das Institut für Management- und Wirtschaftsforschung. Das gilt vor allem für größere Mittelständler: Einer Studie des Marktforschungsinstituts Forsa zufolge sind 48 von 100 befragten Unternehmen nicht auf eine Pandemie vorbereitet. Neun von zehn davon sind Mittelständler. Dabei geht es für einen Betrieb letztlich um die gleichen Fragen wie der gesamten Volkswirtschaft. Inwieweit lassen sich die erkrankten Arbeitskräfte ersetzen, wie wirkt sich ein erhöhter Krankenstand auf die Produktionsprozesse aus, wie viel Wissen geht dabei verloren, wird es zu irrationalem Verhalten bei den Verbrauchern kommen, und welche Auswirkungen hat all das auf die Wertschöpfung? Für Deutschland haben das RWI und die ADMED GmbH, wie schon 2006 für den ersten Pandemie-Report der Allianz, drei mögliche Szenarien durchgerechnet und dabei deutlich geringere Auswirkungen prognostiziert als damals. Haben die Wissenschaftler im Angesicht der Vogelgrippe mit Kosten zwischen ein und 3,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gerechnet, kommen sie jetzt auf ein gesamtwirtschaftliches Minus von 1,6 Prozent im schlimmsten Fall. In Krisenzeiten haben die Unternehmen weit weniger Aufträge als im Vorjahr, beschäftigen aber dank Kurzarbeit immer noch die gleiche Anzahl an Mitarbeitern. Selbst wenn Teile der Belegschaft krank werden, fällt das weniger stark ins Gewicht als in Boomzeiten. Legt man die mildeste Variante des Ausbruchs zugrunde, verursacht die Grippe der deutschen Wirtschaft somit Schäden in Höhe von knapp zehn Milliarden Euro – verglichen mit den staatlichen Rettungspaketen zur Krisenbewältigung ein moderater Haushaltsposten. Einigkeit herrscht unter den Ökonomen allerdings darin, dass schon vor Ausbruch einer schweren Pandemie, den Volkswirtschaften erhebliche Kosten durch die Vorbereitung auf den Ernstfall entstanden sind. Doch die Investitionen in die Ausarbeitung und Erprobung von Pandemieplänen, die Ausgaben für die Vorratshaltung von Grippemitteln oder den der Impfstoffherstellung werden fast unisono nicht nur als notwendig, sondern als ökonomisch sinnvoll erachtet, weil diese Maßnahmen helfen, die Seuche einzugrenzen. So würde eine landesweite Impfung die Erkrankungsrate deutlich reduzieren und so die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung auf - 0,2 Prozent im milden und auf - 0,8 Prozent im schweren Szenario mildern.

Allianz Deutschland AG

ISBN: 978-3-942022-00-2

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