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Der Median macht immer fifty-fifty

Eine Kleinen Anfrage der AfD-Fraktion an die Bundesregierung zum Medianeinkommen zeigt, dass eine tabellarische Aufstellung sich nicht für faire Vergleiche der Einkommen eignet.

 

Unstatistik vom 30.09.2020

Die Unstatistik des Monats September ist die (inzwischen geänderte) Titelzeile einer Pressemitteilung des Deutschen Bundestages, die auf eine Antwort auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion hinwies. Wie ältere Bildschirmfotos zeigen, stand zum Erscheinungsdatum am 24. September dort noch die Überschrift: „Die Hälfte verdient weniger als das Medianentgelt“ und der letzte Satz lautete: „Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten der Kerngruppe, die ein Bruttomonatsentgelt unterhalb des bundesweiten Medianentgelts erzielten, betrug laut Bundesregierung jeweils 50 Prozent.“ Auch dieser Satz ist heute so nicht mehr in der Pressemitteilung enthalten, findet sich aber noch in der Antwort der Bundesregierung.

Nun ist der Median definitionsgemäß der Merkmalswert, der eine Gesamtheit von Individuen in zwei Hälften teilt. Es liegen daher immer 50 Prozent darüber und 50 Prozent darunter. Das ist offenbar der Pressestelle des Bundestags schließlich auch aufgefallen. Zu ihrer Ehrenrettung ist allerdings anzumerken, dass die AfD-Fraktion explizit danach gefragt hatte, wie hoch die Anzahl und der Anteil der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten, die in den Jahren 2010 sowie 2019 ein Entgelt unter dem bundesweiten Medianentgelt bezogen haben, für den Bund waren und wie sich beides absolut und relativ über diesen Zeitraum verändert habe. Auf die Angabe der relativen Veränderung des Anteils auf Bundesebene hat die Bundesregierung in ihrer Antwort übrigens verzichtet; diese hat sich natürlich nicht geändert. Im Jahr 2010 verdienten 50 Prozent weniger als der Median, im Jahr 2019 war das wieder so, und so wird es in aller Zukunft sein.

Nicht nur Einkommen, auch Lebenshaltungskosten unterscheiden sich regional

Nun mag man einwenden, dass die Anfrage auf eine weitaus detailliertere Aufschlüsselung abzielte, die auf den ersten Blick durchaus interessante Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland, zwischen den Anforderungsniveaus der Tätigkeiten und zwischen den Geschlechtern offenbart. Wer nur auf die „nackten Zahlen“ blickt, übersieht womöglich, dass sich auch die Lebenshaltungskosten zwischen den Regionen stark unterscheiden. Zwar lag das Medianentgelt in Ostdeutschland insgesamt lediglich bei 80 Prozent desjenigen in Westdeutschland. Die durchschnittlichen Netto-Kaltmieten je Quadratmeter spiegelten jedoch gemäß der letzten Mikrozensus-Zusatzerhebung zur Wohnsituation dieses Verhältnis nahezu exakt wider.

Wenn nun die AfD-Fraktion in den einleitenden Sätzen ihrer Anfrage betont, dass eine ausgebildete Fachkraft im Jahr 2018 in Mecklenburg-Vorpommern mit 2 345 Euro lediglich drei Euro mehr Entgelt erzielte als ein Helfer in den alten Bundesländern (2 342 Euro), so ist das nicht falsch. Genauso wenig falsch ist es jedoch zu entgegnen, dass in Ostdeutschland das Medianentgelt seit 2010 um 774 Euro angestiegen ist, in Westdeutschland nur um 688 Euro. Relativ gesehen entspricht das Erhöhungen von 37,7 Prozent in Ostdeutschland und von 24,2 Prozent in Westdeutschland. (Wir warnen allerdings regelmäßig davor, prozentuale Veränderungen zu vergleichen, die auf einer unterschiedlichen Ausgangsbasis beruhen.)

Über alle Qualifikationsniveaus hinweg ist das Medianentgelt in Ostdeutschland absolut und relativ stärker gestiegen als in Westdeutschland; dies ist auch in Mecklenburg-Vorpommern nicht anders. Am größten ist der Unterschied im Gehaltsanstieg bei den Helfern, am geringsten bei den Experten. Frauen hingegen haben zwar in den niedrigen Qualifikationsniveaus stärker zugelegt als Männer, in den höheren jedoch weniger. Womöglich ist vieles davon schlicht ein Effekt des Mindestlohns.

Eine tabellarische Aufstellung eignet sich nicht für faire Vergleiche der Einkommen

Aus der Fülle an statistischem Material, das die Antwort der Bundesregierung bereitstellt, lassen sich offensichtlich nach Belieben Beispiele herauspicken, die wahlweise Ost- oder Westdeutsche, gering oder hoch Qualifizierte, Männer oder Frauen als Verlierer der Entgeltentwicklungen der vergangenen Dekade erscheinen lassen. Aus diesem Grund erfordern faire Vergleiche von Einkommen und deren Entwicklungen eine Bereinigung um sämtliche verzerrenden Variablen, die eine bloße tabellarische Aufstellung nicht zu leisten vermag. Deswegen ist die Absicht dieser Unstatistik nicht, der AfD-Fraktion, dem Bundestag, der Bundesregierung oder allen dreien zu unterstellen, sie wüssten nicht um die Definition des Medians und hätten deswegen entweder dumm gefragt oder dumm geantwortet. Vielmehr wollen wir proaktiv darüber aufklären, wie leicht scheinbar neutrale Statistiken politisch instrumentalisiert werden können, indem sie gezielt ausgewählt und in Relation gesetzt werden.

Ansprechpartner/in:

Katharina Schüller (STAT-UP),                     Tel.: (089) 34077-447
Sabine Weiler (Kommunikation RWI),          Tel.: (0201) 8149-213

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik.

 

Pressemitteilung im pdf-Format